VON CLEMENS POKORNY | 03.06.2013 15:54

Freizeitgesellschaft?

Was ist eigentlich Freizeit? Wie viel davon brauchen wir? Wie verhält sie sich zur Arbeit? Diese Fragen stellen sich mit Nachdruck in einer Zeit, da wir wieder weit von einer 35-Stunden-Woche entfernt sind und es wohl auch mittelfristig bleiben werden; in einer Zeit, da wir zugleich länger Urlaub machen als das in allen anderen europäischen Ländern der Fall ist. Freizeit steht oft komplementär zur Arbeitszeit, doch Beobachtungen an Bauern, die annähernd noch so leben wie die meisten Menschen vor der industriellen Revolution, legen nahe, dass „Freizeit“ zurecht auch ganz anders verstanden werden kann.

Eine wachsende Zahl an Menschen in Deutschland muss mehrere Jobs ausüben, um über die Runden zu kommen, und auch wer eine gute Arbeit hat, verbringt damit mehr Zeit als früher – dies belegen Zahlen des statistischen Bundesamtes. Während manche noch in den 1980er-Jahren davon ausgingen, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit durch Automatisierung und Produktivitätssteigerungen weiter abnehmen und entsprechend die Freizeit zunehmen würde, erleben wir heute das Gegenteil. Doch gleichzeitig sind die Deutschen Urlaubseuropameister, in keinem anderen Land gibt es so viel Urlaub und Feiertage. Da stellt sich die grundsätzliche Frage: Was ist Freizeit eigentlich? Und wie hat sich ihre Qualität entwickelt?

Lohndumping „Made in Germany“

Den Begriff „Freizeit“ im modernen Sinne prägte der Pädagoge Friedrich Fröbel im Jahr 1823, als er Freizeit als diejenige Zeit, die seinen Schülern „zur Anwendung nach ihren persönlichen und individuellen Bedürfnissen freigegeben“ war. Erst in dieser Zeit, im Zuge der industriellen Revolution, konnte überhaupt dasjenige Phänomen auftreten, das wir heute mutmaßlich mehrheitlich unter „Freizeit“ verstehen: Eine strikte Trennung zwischen Arbeits- und arbeitsfreier Zeit, wie es sie bei der Masse der bis dahin meist als Bauern arbeitenden Menschen in diesem Maße nicht gab und wie sie erst durch die intensive und monotone Fabrik- und später auch Büroarbeit notwendig wurde. Senner aus den Alpen, die von den janusköpfigen Segnungen der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft weitgehend verschont geblieben sind, kennen „Freizeit“ in diesem Sinne z.T. bis heute nicht, wie 1991 eine italienische Studie zeigte.

So weit zum Begriff der Freizeit. Ob sie in den letzten 60 Jahren nun individuell zugenommen hat oder nicht, ihre Qualität hat sich im Lauf der Jahrzehnte verändert, wenn auch weder linear noch eindeutig. Der Freizeitsoziologe Horst Opaschowski hat 1997 vier Phasen der Freizeitentwicklung im Deutschland des 20. Jahrhunderts unterschieden: Während bis in die 1950er-Jahre Freizeit primär der Reproduktion von Arbeitskraft oder, anders gesagt, der Erholung diente, wurde sie in den 60ern und 70ern vermehrt zur Steigerung des Sozialprestiges genutzt; in den 80ern und frühen 90ern kam es vielen Menschen in ihrer freien Zeit auf Selbstfindung und Gemeinschaftserlebnisse an, und seitdem steht, in Zeiten von Burnout und der Desavouierung umfassender Lebensentwürfe und Ideologien, oft wieder die Erholung – oder neudeutsch: Wellness – auf dem Freizeitprogramm. Angesichts weltweiter Wirtschafts- und Finanzkrisen dürfte für wenig wahrscheinlich gelten, dass unser Berufsleben kurzfristig leichter wird, sodass Freizeit weiterhin diejenige Rolle in unserem Leben spielen wird, die ihr derzeit zukommt.

Das muss für uns kein Nachteil sein. Erstens steht ein Übermaß an Freizeit im Verdacht, Dekadenzerscheinungen zu fördern. Jeder Student kennt das Phänomen, unter Zeit- und Notendruck besser lernen zu können als wenn er genug Zeit hat. In reichen Ländern wie Norwegen beobachtet man schon heute die Abnahme von höherstufigen Wünschen in der Bevölkerung, also von Wünschen, die selbst nur sekundär für das Erreichen eines Ziels sind. Im saturierten Norwegen schmieden beispielsweise immer weniger junge Menschen ehrgeizige Karrierepläne, weil sie nicht mehr den Wunsch haben, ihre soziale und finanzielle Situation durch beruflichen Erfolg zu verbessern. Entsprechend werden Nachteile für die künftige Wettbewerbsfähigkeit der norwegischen Wirtschaft befürchtet. Zweitens kommt es vielleicht weniger auf die Quantität oder Qualität der Freizeit an als auf die Qualität derjenigen Zeit, über die wir nicht (Schule, Beruf) oder nur bedingt verfügen (Zeit für essen oder schlafen). Wer mit seiner Erwerbstätigkeit glücklich ist und von ihr nicht körperlich oder geistig zermürbt wird, braucht keinen Wechsel von Arbeits- und Erholungsphasen. Vielleicht in Anlehnung an die oben genannte Untersuchung an den Alpenbauern hat die Autorin und Zeichnerin Jutta Bauer zur Beantwortung der Frage, was Glück sei, ein philosophisches Bilderbuch geschaffen. Darin geht es um das Leben des titelgebenden Schafes Selma: Es „fraß jeden Morgen bei Sonnenaufgang etwas Gras, lehrte bis mittags die Kinder sprechen, machte nachmittags etwas Sport, fraß dann wieder Gras, plauderte abends etwas mit Frau Meier, schlief nachts tief und fest. Gefragt, was es tun würde, wenn es mehr Zeit hätte, sagte es: ,Ich würde bei Sonnenaufgang etwas Gras fressen, ich würde mit den Kindern reden ... mittags, dann etwas Sport machen, fressen, abends würde ich gern mit Frau Meier plaudern, nicht zu vergessen: ein guter, fester Schlaf‘. ,Und wenn Sie im Lotto gewinnen würden?‘ - ,Also, ich würde viel Gras fressen, am liebsten bei Sonnenaufgang, viel mit den Kindern sprechen, dann etwas Sport machen, am Nachmittag Gras fressen, abends würde ich gerne mit Frau Meier plaudern. Dann würde ich in einen tiefen, festen Schlaf fallen...‘