VON JULIA ZETZ | 28.06.2013 13:35

Rente und dann?

Neben mir wohnt Oma Anni, sie ist 66 Jahre alt und seit einiger Zeit in Rente. Jeden Morgen um sechs Uhr steht sie auf und macht sich auf den Weg zum Bäcker. Sie frühstückt gemütlich bis um neun und dann fährt sie mit dem Fahrrad los. Aber was tut sie eigentlich den ganzen Tag? Vor zwei Wochen habe ich sie beim Einkaufen getroffen. Bewaffnet mit ihrem kleinen roten Kofferwagen, stand sie in aller Ruhe an der überfüllten Supermarktkasse an. „Eile kenne ich nicht“, sagt mir Oma Anni. „Ich bin ja schließlich in Rente!“. Keine Eile, kein Stress und einfach in den Tag hinein leben, das klingt schön, denke ich mir im Stillen. Aber bei Oma Anni ist das nicht so, ihr Tag ist bis ins Kleinste durchgeplant.

Oma Anni genießt ihre Rente, sie habe schließlich lange genug gearbeitet. Heute verbringt sie den größten Teil ihrer freien Zeit bei Malkursen und, man glaubt es kaum, im Fitnessstudio. „Ich will ja nicht einrosten“, erklärt sie mir. Aber sie gehe nur am Vormittag dorthin, denn abends wären dort die ganzen Gestressten. Und Stress, den mag sie in ihrer Rente nicht haben.

Sterbebegleitung

Das schwarze Freizeitloch

Aber so entspannt war Oma Anni nicht immer. Die ersten Wochen seien seltsam gewesen, erzählt sie, man wisse, es sei kein Urlaub. Oft habe sie nicht gewusst, was sie mit ihrer ganzen Zeit anfangen soll. Jahrzehntelang ist sie jeden Tag um sechs Uhr morgens aufgestanden und zur Arbeit gegangen. „Ich habe immer gerne gearbeitet, selbst im Urlaub konnte ich mich selten einfach in die Sonne oder auf das Sofa legen“, sagt sie heute.

Nach ein paar Monaten kam dann das schwarze Freizeitloch. In ihrer kleinen Wohnung hatte sich alles erledigt. Neue Wandfarbe, neues Sofa neue Küche. Und jetzt? Den ganzen Tag fernsehen wollte sie auch nicht. „Ich wusste irgendwann nicht mehr, was ich tun sollte. Ich hab ich da schon ein bisschen verloren gefühlt“, erzählt sie.

Vom Freizeitloch in Freizeitparadies

Dass Zwangsfreizeit für viele kein Segen ist, kann ich mir gut vorstellen. Spätestens nach zwei Wochen Urlaub freue ich mich wieder auf mein geregeltes Arbeitsleben. Ich genieße die Struktur und meinen durchgeplanten Tag. Und Oma Anni tut das auch. Sie hat sich einen Tagesplan zurechtgelegt, aber Stress, den mag sie nicht mehr so gern. „Ich habe angefangen zu zeichnen, regelmäßig Sport zu machen und einen Hund habe ich jetzt auch“.

Freizeit bis ans Lebensende ist nicht jedermanns Sache, aber Oma Anni findet es gut. „Es wäre ja schlimm, wenn ich irgendwann auf meinem Bürostuhl das zeitliche segnen würde“, erklärt sie mir uns macht sich mit Hund und Fahrrad davon.