VON LISI WASMER
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14.06.2013 13:08
Freiberuflich ohne Freizeit – Zwischen Selbstbestimmung und Auftragsdruck
Freiberufler genießen viele Vorteile. Das ist der allgemeine Tenor, wie er auf vielen Online-Portalen für freiberuflich Tätige vorherrscht. Kein fester Chef, steuerrechtliche Vorzüge, freie Zeiteinteilung – das klingt für viele mehr als nur verlockend. Aber allein die Tatsache, wie viele solche Online-Portale zur Auftragsakquise existieren, zeigt bereits, dass die Arbeit als Freiberufler mit Freizeit nicht unbedingt viel zu tun hat. Denn wer keinen festen Arbeitsplatz hat, der hat auch kein festes Einkommen. Die Freiheit, die man als Freiberufler gewinnt ist also immer auch verbunden mit Selbstverantwortung: Keine Aufträge bedeuten auch kein Verdienst. Und keine festen Arbeitszeiten bedeuten auch keine feste Freizeit. Ein Fallbeispiel.
Gehen wir also von Paul aus. Paul ist Anfang 40 hat die letzten fünfzehn Jahre fest angestellt in der Personalabteilung einer Nudelfabrik gearbeitet und gerade eine neue Bekanntschaft gemacht: Die Midlife-Crisis. Die sitzt ihm auf der Schulter und lacht ihn aus: Um sieben klingelt der Wecker, die Gesichter in der
U-Bahn kennt er fast schon beim Namen, neun Stunden Arbeit – Tag ein, Tag aus. Paul ist es leid. Er will sich jung fühlen, Neues erleben und vor allem sein eigener Herr sein. In der Nudelfabrik fühlt er sich wie ein Spaghetto in der Mangel. Paul träumt vom Ausschlafen, von freier Arbeitszeiteinteilung und einem Leben in Selbstbestimmung. Eines Nachmittags beschließt er zu kündigen, sich als freiberuflicher Journalist zu melden und von nun an sein Leben zu genießen.
Freizeit als Freund, Freizeit als Feind
Raus aus dem Kokon der Sicherheit
In Zeiten schwankender Wirtschaft, Stagnation auf dem Arbeitsmarkt und einer ständig wachsenden Scheidungsrate streben die Menschen mehr denn je nach Sicherheit. Aber warum?
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Die ersten drei Wochen sind bombastisch. Paul hat sich eine Lederjacke gekauft, die passt zu seinem neuen Lebensstil:
jung und dynamisch. Er steht spät auf, blättert in Zeitungen, geht abends ins Kino – morgen kann er ja ausschlafen. In Woche vier stellt er fest, dass er diesen Monat noch keinen Cent verdient hat. Paul setzt sich an seinen Schreibtisch, sucht im Internet nach Angeboten; bis er sich durch die zahllosen Online-Plattformen geklickt hat, ist eine weitere Woche vergangen.
Paul fängt an sich zu langweilen. Der Tag hat auf einmal zu viele Stunden. Er könnte sie füllen mit Ausflügen und Urlauben, er könnte Tauchen lernen oder sich ein anderes Hobby zulegen. Aber Paul hat kein Geld. Der Monatserste liegt schon wieder eine Woche zurück, Pauls Konto hingegen brach.
Feierabend Adé
Fast will er aufgeben, zurück in den Nudeltrott, da kommt der erste Auftrag: Eine Tageszeitung möchte seinen Text abdrucken. Mit der ersten Veröffentlichung kommen neue Bekanntschaften, Paul schafft sich Beziehungen, zieht neue Aufträge an Land. Paul kauft sich einen Kalender, um den Überblick zu behalten. Er steht früh auf, recherchiert, schreibt Texte. Wenn seine Freunde ins Kino gehen, sagt er ab: Er habe noch zu arbeiten und morgen müsse er früh raus. „Machst Du denn niemals Feierabend?“, fragen sie ihn. Aber ein Freiberufler hat keinen Feierabend.
Als er mit eines Tages mit einer neuen Auftraggeberin ins Gespräch kommt, fragt sie ihn, was er in seiner Freizeit mache. Paul schweigt. Denkt nach. Und zuckt mit den Schultern. Freizeit, sagt er, die könne er sich nicht leisten.