VOM MAXIMILIAN REICHLIN | 18.06.2013 13:56

Die unerträgliche Leichtigkeit des Lesens – über E-Books und Besonderes

Heute habe ich mir in der Stadt ein neues Buch gekauft. Mit der U-Bahn habe ich dafür insgesamt eineinhalb Stunden gebraucht. In der selben Zeit hat mein Mitbewohner sich das gleiche Buch gekauft und sogar schon die ersten drei Kapitel gelesen. Dann hat er sich noch einen Kaffee gekocht, eine Folge seiner Lieblingsserie gesehen und sogar noch Zeit gefunden, sich beim Automaten um die Ecke eine Packung Zigaretten zu kaufen. Und das alles, bevor ich die Gelegenheit hatte, überhaupt die Nase in das Buch zu stecken.

Der Unterschied zwischen meinem Mitbewohner und mir: Er hat einen E-Book-Reader, ich nicht. Während ich mich mit überfüllten Buchläden und einem zu kleinen Budget herumschlagen muss, hat mein Mitbewohner bereits den neuen Kehlmann-Roman heruntergeladen, keine zwei Stunden, nachdem er erschienen ist. Für einen Bruchteil des eigentlichen Preises, wohlgemerkt. Darüber grinst er dann selbstgefällig und hält mir einen Vortrag über moderne Technik, das Informationszeitalter und meine antiquierten Wertvorstellungen. Mist.

Analphabetismus

Eigentlich sind diese E-Books wirklich großartig: sie sind nicht einmal so groß, wie ein Schulheft, haben Speicherkapazitäten für eine kleine Bibliothek und sind schnell überall hin mitgenommen. Eigentlich nur Vorteile, die einen Bücherwurm wie mich in schiere Freude versetzen sollten, doch das geschieht nicht. Weil ich es einfach nicht begreife, weil irgendetwas an diesen E-Books sich meinem Verständnis entzieht. Während ich an diesem Abend (ich habe mit meinem neuen Buch übrigens immer noch nicht angefangen) damit beschäftigt bin, das mittlerweile dritte Ikea-Bücherregal zusammen zu schrauben, denke ich über die Gründe dafür nach. Vielleicht werde ich einfach alt und stehe technischen Neuerungen deswegen von vorne herein skeptisch gegenüber. Vielleicht finde ich es auch einfach nicht gut, dass mit meinem Lieblingshobby digitales Schindluder betrieben wird. Was es auch ist, es bleibt dabei, ich komme bei E-Books nicht ganz mit.

Weil es so einfach ist! Würde ich ein kleines bisschen Zeit darauf verwenden, könnte ich meine komplette Sammlung an Büchern, die im Moment den Großteil meines Zimmers beansprucht, auf das E-Book meines Mitbewohners übertragen. Die Kosten wären minimal, eine Datei ist ja nichts wert. Das Ergebnis wären zwei volle Regale voll Altpapier und ein noch nicht einmal zur Hälfte ausgelastetes E-Book. Mit genügend Zeit, Geld und E-Books könnte ich mir eine digitale Kopie der Deutschen Nationalbibliothek zusammenstellen und in meine Regale packen (natürlich erst, wenn ich das Altpapier entfernt habe). Meine Möglichkeiten wären grenzenlos! Es wäre so einfach! Und ich verstehe nicht, warum ich das nicht verstehe, warum sich mir bei der Vorstellung, meine Bücher würden in Zukunft nur noch digital existieren aus irgendeinem Grund der Magen umdreht.

Erst später finde ich heraus, was es ist, was mir daran keine Ruhe lässt. Es ist sehr spät geworden. Nachdem ich das Regal aufgebaut habe, erledige ich nun den Abwasch und immer noch denke ich über meinen Mitbewohner und sein E-Book nach. Er hat das Buch mittlerweile fertig gelesen und sich ein neues heruntergeladen. Als er kurz zu mir in die Küche kommt, frage ich ihn, wie das Buch denn gewesen sei. Er zuckt lustlos mit den Schultern und antwortet: „Ganz O.K. Nichts Besonderes.“ Er verzieht sich wieder und bei mir macht es Klick. Jetzt bin ich es, der selbstgefällig grinsen muss. Ich ziehe den Stöpsel aus dem Abfluss, lege mein Geschirrtuch weg, mache mir eine schöne heiße Tasse Tee und gehe in mein Zimmer. Mein neues Buch liegt noch auf meinem Bett, wo ich es zurückgelassen habe. Als ich es aufschlage, genieße ich einen Moment lang den Geruch des Papiers, frage mich noch, wann die E-Books in der Lage sein werden, diesen Duft zu digitalisieren dann fange ich endlich an zu lesen. Und es ist etwas ganz Besonderes.