VON CLEMENS POKORNY | 02.11.2016 17:51

Deutschland sehen – und abgeschoben werden

Seit Beschluss des Asylpakets II im Februar werden immer mehr Schutzsuchende in Staaten abgeschoben, die objektiv nicht als sichere Herkunftsländer einzustufen sind – allen voran: Afghanistan. Begründung: Einzelne Teile des Landes böten hinreichenden Schutz. Diese Argumentation übergeht allerdings das Wiedererstarken der Taliban im Land. Indes bemühen sich deutsche Behörden, die Geflüchteten zur freiwilligen Rückkehr zu bewegen.

Nach der Türkei nun auch Afghanistan: Nach Plänen der EU-Kommission, die Anfang Oktober beraten wurden, sollen weitere Hilfszahlungen an das vom US-geführten Krieg und dessen Folgen geschundene Land davon abhängig gemacht werden, ob Afghanistan sich bereit erklärt, 80.000 nach Europa geflüchtete Staatsbürger wieder aufzunehmen. Während mit der Türkei einigermaßen auf Augenhöhe über die Rücknahme von Flüchtlingen verhandelt wurde, erpresst Brüssel also Kabul mit dem Druckmittel der Finanzhilfe. Für die einzelnen Geflüchteten würde dies bedeuten: Nachdem sie der Bedrohung durch die Taliban wegen in ihrer Heimat alles aufgeben mussten, nachdem sie den langen, teuren und gefährlichen Weg nach Europa hinter sich gebracht haben, nach im Durchschnitt 13,4 Monaten des Wartens auf Anhörung in ihrem Asyl-Verfahren (!) müssten viele von ihnen nach Afghanistan zurückkehren.

Und damit in einen Staat, dessen Sicherheitslage immer schlechter wird, auch wenn unsere Massenmedien kaum davon berichten. Die Regierung kontrolliert nur mehr zwei Drittel des Landes, die Taliban sind wieder auf dem Vormarsch. Daher haben die Staaten, die bislang Soldaten in Afghanistan stationiert hatten, deren Abzug auch abgebrochen. Seit dem Jahr 2009 hat sich die jährliche Zahl der zivilen Opfer am Hindukusch erhöht, allein in der ersten Hälfte des Jahres 2016 wurden über 1.600 Tote und mehr als 3.500 Verletzte gezählt. In den letzten drei Jahren hat sich die Zahl der Binnenflüchtlinge (also der innerhalb Afghanistans Geflüchteten) auf 1,2 Millionen Menschen verdoppelt. Kann man Schutzsuchende reinen Gewissens in ein solches Land abschieben?

Mutmaßlich um die Kosten für Asylbewerberinnen und Asylbewerber zu senken und rechtspopulistischen Parteien das Wasser abzugraben hat der schwarz-rot dominierte Bundestag bereits Ende Februar das sogenannte „Asylpaket II“ beschlossen. Es beinhaltet derartige Verschärfungen zuungunsten der Schutzsuchenden, dass sogar der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strasser, deswegen zurückgetreten ist. In die neuen „Besonderen Aufnahmezentren“ werden vor allem Asylsuchende mit voraussichtlich schlechten Chancen verbracht und ihre Anträge im Eilverfahren, das heißt ohne sorgfältige Prüfung ihrer Ansprüche, bearbeitet. „Subsidiär Schutzberechtigte“ können ihre Familien zwei Jahre lang nicht zu sich holen. Dabei machen die auf der Flucht besonders gefährdeten Frauen und Kinder etwa in griechischen Auffanglagern bereits über die Hälfte der Ankommenden aus. Und Kranke dürfen nur noch dann nicht abgeschoben werden, wenn ihr Leiden lebensbedrohlich ist.

Reiche Länder stehlen sich aus der Verantwortung

Obwohl sich die Sicherheitslage in Ländern wie Afghanistan, Syrien, Eritrea oder dem Irak nicht verbessert hat, werden seit dem Winter vermehrt auch Asylbewerberinnen und Asylbewerber aus diesen Ländern in ihre Heimatstaaten abgeschoben. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) argumentiert sinngemäß: Weite Teile des Landes seien von Taliban frei, daher hätten die Betroffenen nicht ihr Land verlassen müssen und können stattdessen dort Zuflucht suchen. So ist die Quote der Anerkennungen von Flüchtlingen aus Afghanistan in Deutschland von 78 im letzten auf 48 Prozent in diesem Jahr gesunken. Dabei hat niemand eine Übersicht darüber, welche Regionen Afghanistans tatsächlich sicher sind, außerdem ändere sich dies ständig, kritisiert Luise Amtsberg, flüchtlingspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Grünen im Deutschen Bundestag.

Allem Anschein nach sollen Asylsuchende davon abgeschreckt werden, überhaupt nach Deutschland zu kommen. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl berichtet davon, dass (auch) afghanischen Antragstellerinnen und Antragstellern von Seiten der Behörden die Ausreise nahe gelegt werde, unter anderem weil sie angeblich nur geringe Chancen auf Anerkennung als Asylbewerberinnen und Asylbewerber hätten. Rechnet man allerdings zu den oben genannten 48 Prozent Anerkennungen diejenigen hinzu, über deren Verbleib in der EU nach deutscher Beurteilung ein anderes Land zu entscheiden hat, kommt man auf fast zwei Drittel der in Deutschland Asylsuchenden, die in Europa bleiben können. Angesichts dieser Zahlen erhärtet sich der Eindruck, dass die verantwortlichen deutschen Behörden entgegen dem Geist der Genfer Flüchtlingskonvention den Asylsuchenden nicht nur aus Afghanistan die Inanspruchnahme ihrer Rechte verleiden will. Da passen die EU-Pläne zu Afghanistan ins Bild. Doch sieht so eine christliche und sozialdemokratische Flüchtlingspolitik aus?