VON CLEMENS POKORNY | 21.12.2016 16:08

Die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker – und ihre Umsetzung

Afrikanische Autokraten wollen für ihre Taten nicht zur Rechenschaft gezogen werden können – diesen Eindruck erwecken unsere Medien mit ihrer Berichterstattung häufig. Wahr ist aber auch, dass gerade in Afrika Menschenrechte etabliert wurden, die den Spezifika der Kulturen des Schwarzen Kontinents in besonderem Maße Rechnung tragen. Ihre Umsetzung könnte freilich auch heute noch verbessert werden.

In den letzten Monaten sind mit Südafrika, Gambia und Burundi drei afrikanische Staaten aus dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ausgetreten, weitere wie Kenia, Namibia, Tschad und Uganda könnten folgen. Denn schon seit längerem kritisieren viele vom Schwarzen Kontinent den IStGH als einseitig; Den Haag klage ständig und fast ausschließlich afrikanische Staaten an. Droht nun ein Rückfall in die rechtlose Zeit der Diktaturen nach dem offiziellen Ende des Kolonialismus? Man sollte nicht übersehen, dass meist Institutionen der betroffenen Staaten selbst das Hohe Haus anrufen; innerstaatlich trifft der IStGH also mitnichten auf einhellige Ablehnung. Andererseits sitzt in Afrika das Misstrauen gegenüber europäischen (Rechts-)Regimes aus historischen Gründen verständlicherweise tief. Und auf dem Gebiet der Menschenrechte gibt es dort ein Gericht, das seinem europäischen Pendant – dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – durchaus ebenbürtig ist.

Der „Afrikanische Gerichtshof der Menschenrechte und der Rechte der Völker“ mit Sitz in Arusha (Tansania) kann sogar von Einzelpersonen angerufen werden – auch ohne Rechtsbeistand. Er tagt regulär zweimal jährlich und wird von der Hälfte der afrikanischen Staaten anerkannt. Wenn seine Urteile nicht befolgt werden, stehen zwar ihm selbst keine Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Allerdings haben an seiner Stelle Staatenbünde wie die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft in der Vergangenheit erfolgreich den nötigen Druck ausgeübt. Damit ergänzt und verstärkt der Menschenrechtsgerichtshof die Arbeit der „Afrikanischen Kommission der Menschenrechte und der Rechte der Völker“ mit Sitz in Banjul, der Hauptstadt Gambias. Diese dokumentiert und kommentiert Verstöße, um die Menschenrechte zu schützen und zu fördern. Zudem klärt sie Menschen über ihre Rechte auf und kann Resolutionen verfassen. Die Ergebnisse ihrer Arbeit – erfolgreich war sie etwa im Kampf für die Rechte Homosexueller und gegen Menschenrechtsverstöße im Kongo im Jahr 2003 – steht allerdings unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Afrikanischen Union (AU). Und selbst wenn ihre Empfehlungen zum politischen Vorgehen von der AU gebilligt werden, obliegt es dem Gutdünken der betroffenen Staaten, ob sie sich daran gebunden fühlen oder nicht.

Der Menschenrechtsgerichtshof und die Kommission berufen sich in ihrer Arbeit nicht primär auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, sondern deren afrikanisches Pendant: die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker. Weil ihre endgültige Fassung 1981 in Banjul feststand, wird sie auch Banjul-Charta genannt. Geschaffen wurde sie aus dem Bewusstsein heraus, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als ein europäisches Konstrukt den Besonderheiten Afrikas nicht hinreichend Rechnung trägt. Gerade ab den 1960er-Jahren, als immer mehr Länder des Schwarzen Kontinents von ihren europäischen Kolonialmächten endgültig unabhängig wurden, bedurfte es aber der Kodifizierung spezifisch afrikanischer Menschenrechte besonders dringend.

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Anders als in ihrer international gültigen Schwester wird etwa in Art. 7 Abs. 2 Satz 3 der Charta betont, dass ein Menschenrechtsverstoß, der von nur einer Person begangen wurde, auch persönlich zu ächten sei. Bis dato wurden nämlich die Familien Delinquenter immer wieder gleichsam in Sippenhaft genommen. Aber fast keines der in der Charta festgeschriebenen Rechte gilt absolut – anders als es bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Fall ist. Vielmehr räumt die Banjul-Charta dem jeweiligen nationalen Recht meist den Vorrang ein. Dies muss keine Verschlechterung bedeuten; vielmehr trägt dieser Umstand der Tatsache Rechnung, dass Menschen in Afrika sich viel mehr als Europäer über ihre Zugehörigkeit zu Familie, Clan oder Stamm definieren, die somit wesentliche Bezugsnormen für sie aufstellen. Deshalb kennt die Charta auch keinen Anspruch auf eine Nationalität. Weil die Kolonialmächte die Grenzen zwischen ihren Herrschaftsgebieten willkürlich (mit dem Lineal) gezogen haben, konfligieren Nation und Stamm bekanntlich bis heute. Zudem fehlen der Charta Rechte, die damals (und oftmals auch heute noch) keine Chance auf Umsetzung hatten, wie dasjenige auf die freie Wahl eines Ehegatten, auf einen angemessenen Lebensstandard, Freizeit und bezahlten Urlaub.

Dagegen stechen die individuellen Pflichten hervor, die den Menschenrechten zur Seite gestellt werden, während in der europäischen Rechtsphilosophie primär der Staat Pflichten gegenüber seiner Bevölkerung erfüllen muss. Wer in Afrika lebt, ist stärker als eine Europäerin oder ein Europäer in soziale Zusammenhänge eingebunden und hat daher die Pflicht, für seine Familie und seine Gesellschaft einzustehen. Die „Völker“, deren Rechte die Banjul-Charta schon im Namen trägt, werden nirgends konkret definiert, doch kann man auch in diesem Begriff eine Reaktion auf die traumatischen Erfahrungen mit dem Kolonialismus sehen.

Mit ihren Menschenrechten und -pflichten liefert die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker Maßstäbe, die im Vergleich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die Spezifika des Kontinents angemessen berücksichtigen. Die dazugehörige Kommission und der Gerichtshof sorgen für ihre Umsetzung, auch wenn sie partiell noch zu unverbindlich sind. 50 Jahre nach Ende des Kolonialismus befindet sich Afrika daher auf einem guten Weg, ohne sich von Europa zu stark beeinflussen zu lassen.