VON CLEMENS POKORNY | 10.05.2012 16:29

Cradle-to-cradle: Revolutionäre Idee oder fragwürdiger Hype?

Die Vision klingt großartig: Nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip wird (nahezu) abfallfrei produziert, alle Produkte und Nebenprodukte in der Warenherstellung werden genutzt und die Umweltverschmutzung minimiert, ohne dass Ressourcen eingespart werden müssten. Doch diese Wirtschaftsweise bringt auch Schwierigkeiten und Probleme mit sich.

Im Jahr 2002 machte das Buch eines US-amerikanischen Architekten und eines deutschen Chemikers Schlagzeilen: „Cradle to Cradle“, zu deutsch „Wiege zu Wiege“. Mit ihrem Konzept der Ökoeffektivität, zusammengefasst in dem Schlagwort „Cradle to Cradle“, beschritten William McDonough und Michael Braungart einen neuen Weg in Umwelt- und Wirtschaftswissenschaften. Bis dato galt die seit 1991 etablierte Ökoeffizienz als wichtigster Lösungsansatz für negative ökologische Wirkungen und Ressourcenverschwendung in der Warenproduktion. Ökoeffizient, d.h. ökologisch leistungsfähig herzustellen, bedeutet Nutzenmaximierung bei gleichbleibender Umweltbelastung, zum Beispiel durch die Verringerung der verwendeten Ressourcen und Schadstoffe. Dabei wird der gesamte Weg eines Produktes von der Herstellung über seinen Gebrauch bis zur Entsorgung in den Blick genommen – es wird sozusagen „von der Wiege bis zur Bahre“ auf seine Auswirkungen auf die Umwelt beleuchtet. Dagegen zielt das Konzept der Ökoeffektivität, oder ökologischen Wirksamkeit, auf geschlossene Produktionskreisläufe ab: ein Produkt soll möglichst recyclingfähig hergestellt werden und Nebenprodukte als Ausgangsstoffe für weitere Produktionsprozesse dienen.

Das Gegenteil

Das alleine an Quantität orientierte Konzept der Ökoeffizienz kann Umweltverschmutzung und Rohstoffverknappung letztlich nur verlangsamen. Deshalb schauten sich McDonough und Braungart für ihre Idee die Wirtschaftsweise der Natur ab: Dort findet oftmals eine massive Ressourcenverschwendung statt. Ein Apfelbaum bildet beispielsweise hunderte Früchte, von denen die meisten von Tieren oder Menschen verzehrt werden oder schlichtweg verrotten. Nur wenige Äpfel bewahren ihre Kerne, aus denen später neue Bäume wachsen können. Der Apfelbaum weist also eine katastrophale Ökoeffizienz auf, weil er viel mehr Ressourcen verbraucht als idealiter nötig wären, aber seine Ökoeffektivität ist sehr hoch: aller vermeintlicher Abfall wird von Lebewesen genutzt, es bleiben keine Rückstände übrig. Entsprechend steht das Prinzip „Cradle to Cradle“ unter dem Motto: waste equals food – Abfall ist Nahrung.

Analog können die biologisch leicht abbaubaren Verbrauchsgüter wie z. B. Textilien so produziert werden, dass sie schnell und rückstandsfrei kompostierbar sind, während die robusteren sogenannten Gebrauchsgüter nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip unter geringem Aufwand für die gleiche oder eine neue Verwendung aufbereitet werden müssen. Beides erfordert ein intelligentes Produktdesign. Bei der Konzeptionierung von Produkten gemäß Cradle to Cradle berät Michael Braungarts Hamburger Firma EPEA (Environmental Protection Encouragement Agency). Der Chemieprofessor, der die Partei der Grünen mitgegründet und am Aufbau der deutschen Sektion von Greenpeace mitgewirkt hat, verdient auch an der Verleihung des Cradle-to-Cradle-Zertifikats durch EPEA an Unternehmen, die wenigstens einzelne Produkte ökoeffektiv herstellen – darunter sind bereits Größen wie Nike, VW oder Trigema.

Cradle to Cradle ist, neben viel Zuspruch, auch auf Kritik gestoßen. Bezweifelt wird die praktische Umsetzbarkeit des Prinzips. Dass Braungart kompostierbare Sitzbezüge für einen Airbus entworfen hat, begrüßt sein Chemikerkollege Friedrich Schmidt-Bleek natürlich, doch er weist darauf hin, dass der übergroße Rest des (ohnehin prinzipiell nicht sehr umweltfreundlichen) Flugzeugs noch nicht ökoeffektiv sei. Andere kritisieren Braungarts Propagierung von Ressourcenverschwendung nach dem Vorbild der Natur oder befürchten planwirtschaftliche Regulierungen zur notwendigen Schließung der Produktionskreisläufe bei Cradle to Cradle. Fest steht: Die ersten Anstrengungen nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip haben nicht nur Erfolge gezeitigt. Indem die Industrie aber die Vision von McDonough und Braungart aufgreift, mit der die beiden Recyclingfähigkeit als universelles Prinzip propagieren, wird immerhin ein vielversprechender Weg beschritten, dessen Gangbarkeit sich allerdings erst langfristig erweisen wird.