VON MAXIMILIAN REICHLIN | 23.06.2014 17:52

Mikrokredite – Kleine Leihgaben werden zum großen Problem

Lange galten Mikrokredite als Allheilmittel gegen die Armut in Entwicklungsländern. Der offizielle Erfinder der Mikrokredite, Muhammad Yunus, erhielt für seine Idee im Jahre 2006 sogar den Friedensnobelpreis. Die Branche boomt, vor allem in Indien und Bangladesch, wo mittlerweile ein Großteil der existierenden Mikrokreditfirmen ihren Sitz haben. Nun zeigen neue Untersuchungen jedoch, dass die vielgepriesenen Mikrokredite oft ihr Ziel verfehlen, die Umstände sogar noch verschlimmern können. Hohe Schulden, Privatisierung und Suizid können die Folge eines unbedachten Mikrokredits sein.


Es begann als eine gute Idee. Als Muhammad Yunus im Jahr 1976 in Bangladesh damit anfing, kleinste Kredite an Privatpersonen zu vergeben, war sich die gesamte Welt einig, dass damit ein wichtiger Schritt auf den Weg zur Armutsbekämpfung geleistet wurde. Und die Idee funktionierte. Yunus' Grameen-Bank verteilte Mikrokredite an Haushalte oder Frauengruppen, die damit kleinere Geschäftsideen verwirklichen und sich, beinahe vollständig aus eigener Kraft, aus der Armut erheben konnten. Die Kontrollen waren streng: Wer das Geld nicht für das Projekt nutzte, für dessen Umsetzung es ihm anvertraut worden war, erhielt keinen Cent mehr. Die Idee dahinter: gezielte Entwicklungshilfe.

Survival of the fittest?

Diese Sorgen machten sich viele der Firmen, die daraufhin für einen Boom des Mikrofinanzsektors in Indien sorgten, nicht mehr. Immer mehr kommerziell-eingestellte „Microlender“ überfluteten den Markt. Mittlerweile wird die Zahl der weltweiten Mikrokreditgeber auf über 70.000 geschätzt, mit 75 Millionen vergebenen Krediten alleine in Indien. Doch diese Kreditgeber sind nicht die Grameen-Bank. Ihnen geht es nicht um Entwicklungshilfe, sondern um Profit. Und den treiben sie unerbittlich ein. Zinsen von bis zu 80 Prozent gelten in den asiatischen Ländern mittlerweile als üblich für Mikrokredite. Die Begründung: Hohe Transaktions- und Anfahrtskosten, und so weiter.

Das Ergebnis: Kaum ein Kreditnehmer ist mehr in der Lage, seine Zinsen zurückzuzahlen. Studien ergeben: Mikrokreditnehmer in Indien arbeiten mehr, verdienen allerdings nicht mehr als zuvor, da das übrige Einkommen für die Tilgung der Schulden verwendet werden muss. Nur etwa fünf Prozent aller Mikrokreditnehmer ist nach neuesten Untersuchungen in der Lage, einen tatsächlichen finanziellen Aufschwung zu verbuchen, und dabei handelt es sich größtenteils um Kreditnehmer, die schon zuvor über ein sicheres Einkommen verfügten. 50 Prozent können ihren Lebensstandart durch die Mikrokredite halten, ganze 45 Prozent verarmten durch die Zinszahlungen noch mehr.

Schon werden Selbstmordwellen in Indien mit der Mikrokreditindustrie in Verbindung gebracht. So berichtete die Zeit 2010 von einer zwanzigjährigen Inderin und ihrem fehlgeschlagenen Suizidversuch. Laut eigenen Angaben war der Beweggrund der jungen Frau Verzweiflung aufgrund ihrer hohen Mikrokreditzinsen. Diese betrugen in dieser Woche 337 Rupien – umgerechnet etwa sechs Euro. Genaue Zahlen über Selbstmorde unter Mikrokreditnehmern gibt es allerdings nicht. Laut Tagesspiegel sei die Selbstmordrate in Indien ohnehin recht hoch, ein Zusammenhang zu den Mikrokrediten bestehe deswegen nicht zwingend. Mitglieder der Mikrokreditbranche selbst sehen in den Anschuldigungen höchstens „Falschmeldungen der Zeitungen.“

Es verbleiben allerdings zwei sehr reale Probleme: Zunächst die immer weiter fortschreitende Privatisierung durch die Mikrokredite. So würde den Einwohnern vieler Slums in Indien, die immer noch ohne Wasseranschluss und Sanitärversorgung leben müssen, mittlerweile angeboten, eben diese Versorgung durch Mikrokredite selbst zu finanzieren. Der Ökonom Philip Mader bezeichnete das im Gespräch mit der TAZ als „Privatisierung durch die Hintertür.“ Außerdem sehe man sich mittlerweile in Indien und Bangladesch mit einer neuen Finanzkrise konfrontiert, deren Kern die Mikrokredite seien, da immer weniger Schuldner in der Lage sind, ihre Zinsen zu bezahlen. Ähnlich wie bei den Kreditgebern günstiger Immobilienkredite in den USA um 2007, die schließlich die letzte große Finanzkrise ausgelöst haben, droht auch die Mikrokreditblase in Indien langsam zu platzen.