VON NILMARA BAYRHOF | 16.04.2010 09:36

Staatangehörigkeit: die Welt

Seit knapp 5 Jahren lebe ich in Deutschland. Es fiel mir nicht richtig schwer, mein Heimatland Brasilien zu verlassen. Vielleicht weil ich wenig Ahnung hatte, was alles auf mich zukommt. Diese 5 Jahre bezeichne ich als die schwierigsten, aber auch interessantesten Jahre meines Lebens.

Die erste Herausforderung - mein Leben bei NULL anzufangen. Als 26 Jährige, mit einem Hochschulabschluss, ca. 3 Jahre Berufserfahrung und tollen Karriereperspektiven musste ich wieder lernen zu reden. Aber noch komplizierter war - und ist es immer noch - zu verstehen, wie diese andere Gesellschaft funktioniert und wie die Menschen denken, die hier in dieser „Welt“ geboren und aufgewachsen sind.

Das Thema Kultur beschäftigt mich seitdem ständig. Mir ist plötzlich bewusst geworden, dass vieles, was ich mache, nicht unbedingt authentisch ist. Meine Art zu denken, meine Aktionen und Reaktionen entstehen aus einer gewissen Menge an Informationen, die ich in den ersten Jahren meines Lebens gesammelt habe. Ich rede hier nicht über das fröhliche Temperament der Brasilianer, sondern über andere subtile, aber sehr prägende Unterschiede. Zum Beispiel hat Deutschland eine Tendenz zur „Low Context Culture“ (Kulturdimention-Modelle von Holl und Hofstede). Schnell erklärt brauchen die Deutschen weniger Hintergrundinformationen und wesentlich weniger persönliche Bindungen, um eine erfolgreiche Kommunikation zu führen – ganz anders verhalten sich Menschen aus „High Context Culture“ wie Brasilien und China, in denen die Sprecher viel mehr Zeit und Energie investieren, um ihre Ansprechpartner kennen zu lernen.

Dies erlebe ich ständig im Alltag. Die Deutschen sind direkt und gehen ganz objektiv mit Konflikten um, Brasilianer versuchen lieber Konflikte zu vermeiden und lösen Tensionen in einer indirekten Art. Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“, aber wer in einer unterschiedlichen Kultur leben will, muss lernen, damit klar zu kommen.

Je mehr ich mich mit dem Thema Kultur beschäftige, desto weniger fühle ich mich mit einer einzigen Kultur verbunden. Lande ich am Flughafen in Rio de Janeiro frage ich mich, warum alles so langsam läuft. Lande ich am Flughafen in München vermisse ich die Freundlichkeit. Aber diese Situationen aus einer Metaebene zu betrachten hilft mir sehr, damit besser umzugehen. Heute fühle ich mich nicht nur wie eine Brasilianerin und ich bin auch auf keinen Fall eine Deutsche geworden – meine neue Staatsangehörigkeit ist die Welt.