Mein bunter VW Käfer knattert fröhlich über den schwarzen Asphalt. Wie in einem Bilderbuch zieht die fantastische Kulisse der Halbwüste mit ihren Tafelbergen und weiten Tälern vorbei. Vereinzelt steht eine Aloe im falben Gras, oder ein Springbock zeigt sein Gehörn. Sonst passiert nicht viel. Über dem Motorengeräusch hänge ich Gedanken nach, die nur von der Endlosigkeit einer großartigen Landschaft inspiriert werden können. Plötzlich treten die Berge zur Seite, die Straße fällt in atemberaubenden Serpentinen die harte Abbruchkante des Hochplateaus hinab. Unter mir erstreckt sich die fruchtbare Region des südafrikanischen Westkaps, die sich mit ihren Kornfeldern und Weinfarmen bis hin zu den in der Ferne grüßenden kalten Wassern des Südatlantiks erstreckt. Noch 800 Kilometer bis Kapstadt, mit meinem garantiert nicht TÜV-geprüften Gefährt also gut zwei bis drei Tagesreisen bis ans Ziel.
Während meines Auslandsstudiums an der University of Cape Town 1999 habe ich mich mit dem Südafrikavirus infiziert, und kehre seither immer wieder zurück. Das vielfältige Land mit seiner bewegten und bewegenden Geschichte, der Unterschiedlichkeit seiner Bewohner, den scheinbar unüberwindbaren Rissen der traumatisierten Post-Apartheidsgesellschaft und die erfrischenden Brücken, die allerorten im Geiste des ‚New South Africa’ darüber geschlagen werden, lassen einen Besucher selten unberührt. Ich selbst konnte irgendwann gar nicht anders, als die Erfahrungen literarisch zu verarbeiten, so stark waren die Widersprüchlichkeiten, so erschreckend so manches Abenteuer, so schön Land und Leute. Heraus gekommen ist ein Roman über die Entwicklung Kapstadts während der vergangenen zehn Jahre, und so finde ich es höchst passend, pünktlich zum Erscheinen des Buches an diesen Ort zurück zu kehren. Sechs Monate habe ich diesmal, um weiter zu schreiben, zu surfen, und die Freiheit unter dem Südhimmel zu genießen.
Wer Südafrika in zwei oder drei Wochen Urlaub kennen lernen will, kratzt höchstens an der Oberfläche. Auch die Berichterstattung während der WM, so breit die Medien das Land auch porträtieren, ließ an Tiefe und Verständnis oft zu wünschen übrig – dieses Land ist auch wirklich zu komplex, um massenmedientauglich zu sein. Die Uhren ticken hier anders, und wer langsam reist, kommt schneller ans Ziel. Ich freue mich deshalb um so mehr, Zeit mitbringen zu können. Wiederholt danke ich innerlich dem deutschen Beamtenstaat: ein Sabbatjahr macht meine Auszeit mit Mitte Dreißig möglich. Eine Option, die übrigens allen Beamten und vielen Angestellten in Deutschland offen steht, von der aber nur wenige wissen, und noch weniger Gebrauch machen. Zu wenige, wie ich finde.
30 Kilometer südlich des Glitzer und BlingBling von iKaapa, wie Kapstadt auf Xhosa genannt wird, beziehe ich mein Schriftstellerquartier in einem Holzhüttchen quasi mitten in unberührter Wildnis. Spartanisch geht es zu, außer einem alten Gaskocher, einem wackeligen Tischchen und einer Matratze gibt es nur viel Busch. Der Grenzzaun des Cape Point Nature Reserve stößt direkt an den Garten, täglich kommen Schildkröten, Skorpione oder auch mal eine Schlange zu Besuch, auch auf Paviane als Überraschungsgäste beim abendlichen braai muss man vorbereitet sein. Zweihundert Meter den Berg hinauf brennen die Holzfeuer im Township Red Hill: ursprünglich für die Angestellten im Reservat gedacht, wohnen hier jetzt vor allem Flüchtlinge aus Angola, Zimbabwe und Mosambik. Man sieht sich, man kennt sich – und lässt sich meistens in Ruhe. Wenn ich zu einem der zahlreichen Surfspots in der Gegend fahre, nehme ich gerne mal Anhalter aus Red Hill mit, das ist nicht nur Ausgangspunkt für interessante Unterhaltungen, sondern auch ein Zeichen guten Willens. Die Stimmungslage zwischen Schwarz und Weiß ist nicht immer entspannt, und Symbolik zählt hier viel. Nebenbei lasse ich die Leute auch lieber gleich wissen, dass bei mir nicht viel zu holen ist.
Mzansi, wie Südafrika von vielen schwarzen Bewohnern liebevoll genannt wird, ist kein Paradies. Armut, Aids, Arbeitslosigkeit stehen in direktem Kontrast zu Überfluss und Prasserei. Die globalen Probleme unserer Zeit sind hier in einem einzigen Land zusammengefasst. Eine extrem ungleiche Verteilung materieller Güter, religiöse, ethnische und kulturelle Konflikte, Rassismus, Korruption, Umweltzerstörung, sowie eine hohe Kriminalität lassen dem kritischen Betrachter Südafrika bisweilen als hoffnungslosen Fall erscheinen. Ein gefundenes Fressen für europäische Medien, die - vielleicht von der Hochglanzromantik der Reiseprospekte provoziert, die so gar nicht zur Lebensrealität vieler Südafrikaner zu passen scheint- unter objektivem Journalismus offenbar verstehen, vor allem die Missstände der Gesellschaft zu entlarven. Dabei wird aber einerseits oft vergessen, in welch erstaunlich kurzem Zeitraum dieses Land sich fast gänzlich unblutig vom gewalttätigen Unterdrückungsstaat mit rassistischer Berechtigungsphilosophie zur fast vorbildlich funktionierenden, demokratischen, multiethnischen Gesellschaft mit hohem Integrationspotential und Toleranz entwickelt hat. Andererseits werden die zahlreichen positiven Entwicklungen, die auf staatlicher Intervention, aber vor allem auf beachtlichen Erfolgen privater Initiativen begründet sind, beharrlich ignoriert. Dabei könnte man für unsere eigenen Probleme in Europa einiges von Südafrika lernen – vor allem, dass es immer auf den Einzelnen und dessen Handeln ankommt, und man für die Gesellschaft, in der man sich bewegt, gestaltende Verantwortung trägt.
So kann ich eine Reise nach Südafrika nicht nur als ein touristisches Vergnügen, sondern vor allem als wohltuenden Augenöffner bedingungslos empfehlen. Die materielle Gier, die Selbstgerechtigkeit und begrenzte Freiheit unseres eigenen deutschen Systems zu erkennen, aber dafür Errungenschaften, die gerade wegen ihrer Alltäglichkeit als selbstverständlich hingenommen werden, wieder schätzen zu lernen, ist auf jeden Fall Lohn meines eigenen Ausstiegs auf Zeit. Ein gutes Bildungssystem, ein belastbares soziales Netz, eine funktionierende Müllabfuhr und selbst so etwas banales wie die Möglichkeit, nach dem Kneipenbesuch betrunken auf dem Fahrrad nach Hause zu fahren, sind eben keine Selbstverständlichkeiten. So wohl und sicher ich mich in Südafrika auch fühle – letzteres würde ich mich hier niemals empfehlen.
Doch dafür ist der Himmel hier blauer, und die Gesichter fröhlicher. Man lebt mehr für den Moment, schätzt das ‚hier und jetzt’. Sobald ich den Fuß aus dem Flieger auf heimischen Boden setze, ist sie wieder da, diese gewisse Gehemmtheit der deutschen Existenz. Doch ich weiß ja: Mzansi – you are just a plane flight away.
Ulf Kaschl ist Lehrer an einem Gymnasium in Stuttgart. 2010 veröffentlichte er seinen Debütroman “Roadmovie Kapstadt” im “edition trèves Verlag”, den er im Winter 2010/11 dem Publikum vorstellen wird. Genaue Daten dazu und Berichte aus seinem Sabbatjahr kann man unter www.kaschl.de nachlesen.