Thiede: Wie sind Sie darauf gekommen, sich für einen Sprachkurs plus Freiwilligenarbeit bzw. Praktikum in Indien zu entscheiden?
Jana M.: Ich habe letztes Jahr mein Abitur gemacht und wollte danach unbedingt ins Ausland um mein Englisch zu verbessern. Die meisten fahren ja nach England, Amerika oder Australien. Da ich aber immer schon einmal nach Indien wollte, habe ich mich für einen Sprachkurs und ein soziales Praktikum in Indien entschieden.
Thiede: Hatten Sie besondere Erwartungen an Ihren Aufenthalt?
Jana M.: Ich wollte mein Englisch an der Sprachschule verbessern und gleichzeitig das Land kennenlernen. Dabei war mir wichtig, möglichst viele Seiten von Indien kennenzulernen - nicht nur die schönen touristischen, sondern auch die weniger attraktiven. Deshalb habe ich mich auch dazu entschieden, mein soziales Praktikum in einem Slum zu machen.
Thiede: Wie sind Sie am Anfang mit der neuen Kultur zurechtgekommen? Wo gab es für Sie die größten Unterschiede?
Jana M.: Am Anfang hat mich Indien mit seinen vielen Eindrücken fast erschlagen. Vor allem die ersten zwei Wochen waren ein regelrechter Kulturschock. Das Leben fühlte sich an wie auf einem anderen Planeten. Um einmal ein paar Beispiele zu nennen, beschreibe ich am Besten meinen zweiten Tag:
Die erste Nacht hatte ich nicht gut geschlafen. In meiner Nachbarschaft wurden überall laut Verlobungen und Hochzeiten gefeiert. Und die können mehrere Tage und Nächte dauern, wie ich später herausfand. Am nächsten Tag habe ich mich mit einem mexikanischen Freund getroffen, den ich am Tag vorher kennengelernt habe. Er wollte unbedingt nach Old Delhi und nichts Böses ahnend habe ich zugestimmt. Also haben wir zum ersten Mal unsere neue Umgebung verlassen und sind nach Old Delhi gefahren. Dabei ist anzumerken, dass unsere Umgebung bei uns schon für Fassungslosigkeit gesorgt hatte: Verkehrsregeln und -schilder schienen nicht zu existieren und Hupen ist anscheinend eine normale durchgehende Aktivität. Ebenso wie das Pinkeln der Herren an jeglicher Stelle und das Angaffen von Ausländerinnen.
Nun denn, diese neuerlichen Erlebnisse hatten mich am ersten Tag schon ziemlich verschreckt, doch nach dem zweiten Tag war ich komplett fertig. Wir wollten also mit der Metro nach Old Delhi. Unser Schulleiter hatte uns den Weg zur Metro einigermaßen erklärt. So machten wir uns zu Fuß auf den Weg über zerstörte Straßen und Sandwege. Jede zweite Sekunde wurden wir von einem Riksha-Fahrer eingeladen, mit ihm zu fahren. Als wir dann endlich unser Ziel erreicht hatten, waren wir doch positiv überrascht. Die Metro sah wirklich sehr gut aus. Interessanterweise gab es sogar ein Abteil nur für Frauen, was ich später noch sehr zu schätzen lernte. Angekommen in Old Delhi stiegen wir aus der Bahn und gingen raus Richtung Hauptstraße.
Nun erlebte ich den schlimmsten Kulturschock meines Lebens: Alles war laut. Ständig kamen Inder, die einem etwas verkaufen wollten. Die Hauptstraße war um einiges riesiger als unsere kleine Straße vor der Schule und somit um einiges lauter und gefährlicher. Auch hier schien es keine Verkehrsregeln zu geben. Auf dem Gehweg lagen bettelnde Menschen, die mir so unendlich leidtaten. Die Häuser entlang der Straßen sahen ziemlich heruntergekommen aus und waren zum Teil stark zerstört. Darin lebten Menschen. Jeder, wirklich jeder starrte mich an, als ob ich ein Alien sei. Ich bin blond, habe sehr helle Haut, bin groß und habe blaugrüne Augen. Das hat die Inder fasziniert. Selbst als ich zurückguckte, zeigte das keinerlei Wirkung. Es wurde weiter gestarrt.
Dann tauchte plötzlich am Ende der Straße das Red Fort auf. Eine der beeindruckendsten Sehenswürdigkeiten in Delhi. Das war wirklich überwältigend und erschreckend zu gleich. Wenn man sich zu der einen Seite dreht, sieht man bittere Armut, während man auf der anderen Seite überwältigende Tempel, Moscheen oder Forts sieht. Aber das ist normal in Indien. Vor dem Red Fort wollten auf einmal ganz viele indische Herren - oder eher Jugendliche - ein Foto von mir machen. Natürlich waren sie höflich. Sie dachten Paco und ich wären verheiratet. Deshalb haben sie zuerst ihn um ein Foto mit uns beiden gebeten, um dann noch eins mit mir alleine machen zu können. Irgendwann war Paco so genervt, dass er schon von vornherein gefragt hat, ob sie nur ein Bild von mir möchten. Aber die Vorgehensweise blieb gleich, das war eben höflicher. Viele Inder trauten sich nicht, um ein Foto zu bitten und haben daher heimlich ein Foto oder Video gemacht. Viele haben aber auch gewartet, bis jemand anderes gefragt hat oder ich allein war. Wirklich alleine war ich in dem Museum im Red Fort für vielleicht zwei Minuten. Dann baten mich mehr als zwanzig Leute um ein Foto. Natürlich ist es schön, wenn man Aufmerksamkeit bekommt, und ich kann jetzt nachvollziehen, wie sich ein Promi fühlt.
Im Red Fort war es so ruhig und friedlich, so als ob wir weit weg von der lauten Straße wären. Dabei war sie gleich nebenan. Dieses Phänomen erlebt man auch sehr häufig in Indien. Lautes Chaos und friedliche Ruhe können ganz nah beieinander liegen. Beim Rückweg rissen mir Straßenkinder mein Getränk aus der Hand. Auch daran musste ich mich erst gewöhnen. Auf der Straße kann man nicht lange etwas zu Essen oder zu Trinken in der Hand behalten. Aber wenn man sieht, wie diese Kinder leben, dann gibt man ihnen seine Sachen gerne ab. Für sehr wenig Rupien kann man sich jederzeit etwas Neues kaufen. Als mich Paco dann noch nach Hause brachte, wurden wir von einem Straßenhund verfolgt. Davon gibt es viele in Indien. Genauso sieht man überall Kühe, Affen und jegliche andere Tiere. Angreifen tun sie eigentlich nie, aber das wusste ich ja am Anfang nicht.
Alles in Allem habe ich an diesem Tag so fast jeden Kulturschock erlebt, den man in Indien erleben kann. Aber dann wurde es mit jedem Tag besser und normaler. Das Hupen und der Verkehr sind irgendwann Alltag, genauso wie das Chaos, die Fotos und das Starren. Auch an die Händler, die einem grundsätzlich zu viel Geld abnehmen, gewöhnt man sich. Aber trotzdem ärgert man sich jedes Mal wieder, wenn man denkt „oh, diesmal habe ich aber echt ein Schnäppchen gemacht“, weil man zum Beispiel eine Hose von 1500 auf 500 Rupie runtergehandelt hat und sie dann später woanders für 250 Rupie bekommen hätte. Manchmal stören einen diese ganzen Dinge so wahnsinnig, dass man Indien verfluchen will. Aber eine Sekunde später ist wieder so etwas Tolles passiert oder man hat so was Schönes gesehen, dass man sich wieder unsterblich in Indien verliebt. Das Einzige, an das ich mich nicht gewöhnen konnte, war die Armut. Erstaunlich ist, wie ich bei meiner Arbeit in den Slums feststellen musste, dass erstaunlicherweise die armen Menschen Indien am meisten zu vergöttern scheinen.
Thiede: War dies Ihr erster längerer Auslandsaufenthalt beziehungsweise das erste Mal, dass Sie Europa verlassen haben?
Jana M.: Ja, für mich war es das erste Mal, dass ich zwei Monate von zu Hause weg war und das erste Mal, dass ich Europa verlassen habe.
Thiede: Haben Sie sich vor Ort sicher gefühlt?
Jana M.: Da ich die meiste Zeit mit Freunden von der Sprachschule oder anderen Freiwilligen unterwegs war, habe ich mich sehr sicher gefühlt. Allerdings rate ich jedem davon ab, nachts alleine durch die Gegend zu laufen.
Thiede: Wie haben Sie die Arbeit in einem Slum erlebt?
Jana M.: Die Arbeit mit den Frauen und Kindern hat mir viel Spaß gemacht. Auch wenn es auf jeden Fall eine Herausforderung ist - wenn man die Umstände sieht, die in den Slums herrschen. Ich hatte das Glück, in einem für indische Verhältnisse „besseren“ Slum zu arbeiten. Dort gab es nicht so viel Schmutz und Gestank. In anderen Slums liegt überall Dreck, Müll und es laufen haufenweise die unterschiedlichsten Tiere herum.
Thiede: Kann man in Indien gut Englisch lernen? Hatten Sie indische Englischtrainer?
Jana M.: An meiner Sprachschule in Neu-Delhi waren die Lehrer sehr gut und der Unterricht ebenfalls. Den typischen indischen Akzent habe ich bei ihnen jedenfalls zum größten Teil nicht gehört. Die restlichen Inder haben den Akzent hingegen sehr stark.
Thiede: Brauchten Sie für den Sprachunterricht innerhalb des Projekts besondere Vorkenntnisse?
Jana M.: Für die Freiwilligenarbeit braucht man auf jeden Fall Englischvorkenntnisse, da man ja die Leute in den Slums unterrichtet. Ich musste für dieses Coop-Programm, das aus Sprachkurs und Praktikum besteht, zu Beginn einen Online-Test machen, um mein Sprachlevel festzustellen.
Thiede: Was hat Ihnen an Indien und an den Indern am besten gefallen? Sind Ihre Erwartungen an Land und Leute erfüllt worden?
Jana M.: Indien ist überwältigend. Es gibt überall etwas zu sehen. Beeindruckende Hindu- und Sikh-Tempel, Moscheen, Grabstätten, die aussehen wie riesige Tempel, wie das Taj Mahal. Die Feste sind aber mit Abstand das Beste. Ich habe Holi, das Farbenfest und die Cricket-WM mitbekommen. Alles in allem kann ich sagen, dass sich meine Erwartungen definitiv übertroffen haben, da man in Indien nie weiß, was passieren wird.
Thiede: Was hat der Aufenthalt Ihnen persönlich gebracht? Glauben Sie, dass die Erfahrungen vor Ort Sie persönlich verändert haben?
Jana M.: In Indien habe ich zum ersten Mal gesehen, wie krass die Unterschiede zwischen Armut und Reichtum sein können. Man sieht auf der einen Seite der Straße eine umwerfende Moschee, während auf der anderen Seite die Menschen in einem vollkommen zerstörten Haus leben.
Thiede: Sie befinden sich nach Ihrem Abitur zurzeit in einer beruflichen Orientierungsphase. Hat Ihnen die Zeit in Indien bei der Weichenstellung geholfen?
Jana M.: Ich hatte endlich einmal Zeit und Abstand von dem ganzen stressigen „Wie-geht-es-weiter?“. Das Leben und die Arbeit in Indien war wie ein Eintauchen in eine vollkommen andere Welt. Daraus mitgenommen habe ich, dass ich einfach etwas anfangen muss, um festzustellen, ob das Ganze etwas für mich ist oder nicht.
Thiede: Wie bewerten Sie die Kombination von Sprachkurs und Arbeit vor Ort?
Jana M.: Ich denke, das ist eine sehr gute Kombination, da man gleichzeitig eine Sprache professionell lernen und anwenden kann.
Thiede: Welchen Zeitraum halten Sie für einen solchen Aufenthalt für empfehlenswert?
Jana M.: Das kommt auf die Person an. Für mich waren zwei Monate perfekt, wobei ein dritter Monat auch nicht schlecht gewesen wäre. Allerdings rate ich jedem davon ab, nur für zwei Wochen nach Indien zu fahren. In so kurzer Zeit kann man das richtige Leben in Indien nicht kennenlernen. Die Gefahr ist groß, dass man hauptsächlich nur das Negative wahrnimmt.
Thiede: Welche Tipps würden Sie mit Ihren gemachten Erfahrungen anderen mit auf den Weg geben?
Jana M.: Wer einen Aufenthalt in Indien plant, muss sich darüber im Klaren sein, dass Indien eine Herausforderung ist. Das Leben dort ist aufgrund der Kultur und der großen Armut komplett anders, als man es hier in Deutschland gewöhnt ist. Ich hatte meine Höhen und Tiefen in Indien, manchmal wollte ich nur nach Hause und dann war ich wieder vollkommen verliebt in Indien. Solange man Indien und der Kultur eine Chance gibt und offen für neue Erfahrungen ist, wird man definitiv nicht enttäuscht werden, sondern überwältigt sein von diesem Land und den Menschen. Ich kann dieses Programm in Indien nur weiterempfehlen, da es für mich eine wunderbare Erfahrung war. Nicht nur Indien und die Arbeit, sondern auch die Menschen, die ich in Indien kennengelernt habe.
Mehr Infos zu den Freiwilligenprogrammen der CDC findest du hier