VON JANA NOSSIN | 26.04.2016 13:38

Wissenschaft statt Tierversuche - Die Moral unter dem Mikroskop der Ethik und Vernunft

Die Bilder, die im September 2014 in Zusammenhang mit den Tierversuchen des Max-Planck-Institutes Tübingen an die Öffentlichkeit kamen, sind nichts für schwache Nerven. Fast meint man, das Herz bleibe einem kurz stehen, betrachtet man die Aufnahmen, die unter anderem Rhesus-Äffin Stella zeigen und das tragische Leben von Versuchstieren – hier – im Institut für biologische Kybernetik Tübingen dokumentieren. Fixiert in einem „Primatenstuhl“, bewegungslos und apathisch wirkt die Äffin, ein Kopfimplantat ragt aus ihrem offenen Schädel, ihre dunklen Augen blicken ins Leere und spiegeln Leid und Schmerz.


Das Material, das im Rahmen einer Undercover Recherche eines damaligen MPI-Mitarbeiters über mehrere Monate heimlich hinter verschlossenen Türen und Mauern des Max-Plank-Institutes Tübingen aufgenommen wurde, zeigt verstörte, verhaltensauffällige und kranke, halbseitig gelähmte Tiere, die sich erbrechen und immer wieder versuchen, das für Versuchszwecke eingepflanzte Kopfimplantat auszureißen. Für die Versuche und Operationen, die der so genannten Grundlagenforschung dienen sollen, werden die Tiere mit einer Stange aus dem Käfig gezerrt, den sie scheinbar angstvoll und nur widerwillig verlassen.

Stern-TV berichtete - nach einer genauen Überprüfung des von SOKO Tierschutz übermittelten Materials, welches aus hunderten Fotos, Dokumenten und mehr als 100 Stunden Filmaufnahmen bestand, – erstmals im September 2014 und veröffentlichte die auf Echtheit geprüften Aufnahmen, die schließlich deutschlandweit für Schlagzeilen und Entsetzen sorgten.

Grundlagenforschung ist eine Forschung, die teilweise einzig und allein der Vermehrung des Wissens dient. Für diese „Neugierforschung“ werden im MPI Tübingen, aber auch in anderen Instituten in Göttingen, Bremen und Magdeburg, Tiere mehrere Stunden mit angeschraubtem Kopf vor einem Bildschirm fixiert und mit tagelangem Wasserentzug gezwungen, Denkaufgaben an Bildschirmen zu lösen. Lösen die Tiere diese richtig, erhalten sie als „Belohnung“ einen Tropfen Wasser oder Saft. Fehler werden mit weiterem Flüssigkeitsentzug „bestraft". Durch die Schädelimplantate werden dann entsprechende Messungen mittels Elektroden im Gehirn erhoben. Die Organisation „Ärzte gegen Tierversuche“ beschreibt dies als „Ausleben tierexperimenteller Forschungsinteressen ohne klinische Relevanz“ und fordert seit Jahren das Ende dieser Experimente.

Der Tod ist ein Master aus Deutschland

Auch für andere Forschungszwecke, zum Beispiel für die angewandte Forschung oder für Giftigkeitsprüfungen von Medikamenten, Kosmetika, Zigaretten, Chemikalien, Wasch-, oder Putzmitteln, werden Tierversuche erlaubt, gefördert und sind teilweise sogar gesetzlich vorgeschrieben. Hierfür werden Tiere - in der Regel sind dies Mäuse, Ratten, Affen, Hunde, Katzen, Kaninchen, Hühner und Meerschweinchen - in den Laboren der chemischen und pharmazeutischen Industrie, der Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen für Forschungszwecke missbraucht. Die Tiere werden für die Versuche vergiftet, verstrahlt, verbrannt, verstümmelt, mit Viren, Bakterien und Parasiten infiziert. Erkrankungen wie Infarkte, Anfälle oder Krebs werden künstlich hervorgerufen, ihnen werden Knochen gebrochen, Organe entfernt und wiederverpflanzt, sie werden erstickt, mit Elektroschocks traktiert oder sie müssen – wie im Falle von Rhesus-Äffin Stella – für die Grundlagenforschung hungern, dursten oder sich Operationen und anderen leidvollen Prozeduren unterziehen.

Gewinnorientierung und persönliche Profilierung statt Wissenschaft und Gemeinwohl?

Weltweit leiden und sterben mindestens 115 Millionen Tiere pro Jahr für Tierversuche. Diese werden im Übrigen mit Steuergeldern subventioniert. Alleine für den Bau neuer Tierlabore werden Förderbeträge in zweistelliger Millionenhöhe ausgegeben. Tierversuche im Hochschulbereich werden maßgeblich durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert, wofür jährlich rund 2,52 Milliarden Euro – größtenteils aus Staatskassen - zur Verfügung gestellt werden. Hingegen wird die tierversuchsfreie Forschung mit nur rund vier Millionen Euro jährlich unterstützt.

Wo Bund, Länder und EU in hohem Maße Tierversuche statt tierversuchsfreier Forschung fördern, birgt sich – nicht nur bei den gewinnorientierten forschenden Pharmaunternehmen, sondern auch bei anderen Institutionen und Forschungseinrichtungen sowie Einzelpersonen – die Gefahr, dass Versuche an Tieren nicht nur aus reiner wissenschaftlicher Neugier und Forschungsgründen betrieben, sondern auch aus Profilierungsgründen einer tierversuchsfreien Forschung vorgezogen werden.

Auch auf anderen Ebenen bereitet der Gesetzgeber grundlegend und beständig den Weg für Versuche an Tieren. So werden beispielsweise Arzneimittel-Hersteller nur dann aus der Haftung genommen wenn es bei Patienten zu unerwünschten Nebenwirkungen kommt, sofern die Hersteller tierexperimentelle Studien zu diesen Mitteln nachweisen können. Zahlreiche Gesetze und Verordnungen schreiben eine Vielzahl von Tierversuche in Deutschland, in der EU und international (z. B. für die Produktvermarktung außerhalb Deutschlands) vor.

Sind Tierversuche schlechte Wissenschaft?

Dem Verbraucher wird indessen oftmals suggeriert, dass Tierversuche, zum Beispiel zur Risikominimierung von Arzneimitteln und anderen handelsüblichen Stoffen oder zur Erforschung von Heilmitteln grundsätzlich notwendig seien. Jedoch sind längst vielzählige Fälle bekannt, in denen als „sicher“ geltende Medikamente, die vorher jahrelang exzessiv an Tieren getestet wurden und hier die gewünschte Wirkung zeigten, beim Menschen schwerwiegende, ja sogar tödliche Nebenwirkungen hervorriefen und folglich wieder vom Markt genommen werden mussten. Tierversuche sind also nicht nur für das Versuchstier, sondern auch für den Menschen gefährlich.

Wo Experimente und Versuche durchgeführt werden, bei welchen der menschliche und tierische Organismus nicht vergleichbar sind, sondern allenfalls lediglich die Krankheitssymptome, die beim Versuchstier in der Regel erst künstlich erzeugt werden, und wo darüber hinaus wichtige Aspekte der Krankheitsentstehung selbst, zum Beispiel durch schädliche Umwelteinflüsse und krankmachende Lebensgewohnheiten gänzlich außer acht gelassen werden, wo Vergleichsstudien immer wieder zeigen, dass Tierversuche keine wiederholbaren / wissenschaftlich zuverlässigen Ergebnisse liefern, stellt sich an dieser Stelle auch die elementare Frage, ob solche Experiment überhaupt den Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens entsprechen oder ob diese – alleine schon aus wissenschaftlicher Sicht – grundlegend abzulehnen sind.

Forschung Ja, aber ohne Tierversuche

In vitro“ (lat.) bedeutet „im (Reagenz)Glas“ und steht für eine Forschung an schmerzfreier Materie, z. B. aus Zellenkulturen. „In-vitro-Forschung“ kann Tierversuche nicht nur zuverlässiger, kostengünstiger und ohne das unnötige Leiden und Sterben von Millionen Tieren ersetzen, sondern liefert – im Gegensatz zu Tierversuchsforschung – wirklich relevante Ergebnisse, da es sich hierbei um Forschung an Zellen, Gewebe, Organpräparaten und Mikroorganismen, also um Material aus dem menschlichen Organismus handelt. Freilich kann eine Zellkultur-Methode nicht vorhersagen, wie ein kompletter Organismus auf einen Stoff reagieren wird, doch Tierversuche können dies ebenso wenig, da es sich hier um einen gänzlich anderen Organismus handelt. Warum diese Forschung noch immer ein Schattendasein führt und nicht in großem Umfang durch entsprechende Gesetze und Subventionen gefördert wird, darüber lässt sich spekulieren. Dabei konnten in den letzten Jahren gerade durch „In-vitro-Forschung“, die sich längst in der Praxis bewährt hat, erhebliche Fortschritte verzeichnet werden. Viele Wissenschaftler haben die Vorteile dieser Methode bereits erkannt und widmen sich dieser innovativen, erfolgsversprechenden Forschung.

So stellt sich nun abschließend die Frage, ob sich Forschung grundsätzlich nicht auf wahren Fortschritt und Entwicklung konzentrieren sollte, statt seit mehr als 100 Jahren an einem Standard festzuhalten, der nicht nur aus ethischer, wissenschaftlicher und finanzieller Sicht höchst umstritten ist, sondern sogar große Gefahren für die menschliche Gesundheit und Sicherheit birgt.

Nach § 1 des Tierschutzgesetzes, dessen Zweck es ist, „aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen, […] darf niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“. Praktisch jedoch werden durch § 7 des selben Gesetztes nahezu alle Tierversuche, die das Gesetz als solche definiert, erlaubt, auch wenn diese Eingriffe und Behandlungen „mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für diese Tiere verbunden sein können“. Ob das Deutsche Tierschutzgesetz nun tatsächlich Tiere schützt oder diesen Schutz auf anderen Wegen aus anderen Gründen wieder umgeht, bleibt dahingestellt.

Rhesus-Äffin Stella hat das Deutsche Tierschutzgesetz letztendlich nicht geholfen, sie wurde nach einem wohl leidvollen Leben in einem Versuchslabor eingeschläfert, nachdem sie einen Schlaganfall erlitten hatte und in der Folge halbseitig gelähmt war. Ihre Mitgefangenen leiden vermutlich noch immer. Für eine reine „Neugierforschung“.