VON LISI WASMER
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05.08.2013 15:09
Wissen, was kommt – oder lieber nicht?
Vom Wahrsager zum Horoskop, vom Orakel zum Glückskeks: Der Blick in die Zukunft ist reizvoll. „Que Sera“ sangen schon Ray Evans und Jay Livingston Mitte der 50er Jahre. Welche Überraschungen hält das Leben für mich bereit? Man will vorbereitet sein, darauf gefasst. Man will wissen, was kommt. Der Song gehört übrigens zum Soundtrack für den Film „Der Mann, der zu viel wusste“. Und damit sind wir auch schon beim großen Nachteil, den das Wissen um unsere Zukunft mit sich bringt: Ohne Ungewissheit gibt es auch keine Spannung. Langeweile macht sich breit. Wer das Drehbuch schon kennt, muss den Film vielleicht gar nicht mehr sehen.
Die Nase sei am glücklichsten, wenn sie in fremden Angelegenheiten steckt, hat der amerikanische Schriftsteller Ambrose Bierce einmal geschrieben. Wir sind neugierig. Dabei interessiert uns aber nicht nur das Leben der anderen; auch in Bezug auf uns selbst werden wir unruhig, wenn wir keine Gewissheit haben. Neugier ist uns angeborenen, sie treibt uns an, die Welt um uns herum zu entdecken: Wir brauchen sie als Motivation um Neues zu lernen und uns einen Erfahrungsschatz anzueignen, der uns hilft, im Leben zurechtzukommen.
Epigenetik
Wie das Leben so spielt und was es mit uns macht - biologisch gesehen
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Gerade das Bedürfnis nach diesem Zurechtkommen ist es, was unsere Neugier leicht auf Abwege geraten lässt. Sie richtet sich nicht mehr auf unsere Umwelt, sondern auf unsere Zukunft. Wahrsager werden aufgesucht, man lässt sich die Karten legen, vielleicht schüttelt man auch eine
schwarze Billardkugel und hofft auf eine halbwegs sinnvolle Antwort. Aber wozu? Geht es einfach nur um die Befriedigung unseres Wissenstriebs? Oder wollen wir für uns die Möglichkeit erzwingen, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen? Und inwiefern – die Sache einmal logisch zu Ende gedacht – macht das eigentlich Sinn?
Die Zukunft kennen. Und dann?
Wenn man über Wahrsagungen spricht, kommt man unweigerlich auf das wohl berühmteste Orakel der Welt: Delphi. Wie passend, dass das größte Problem mit Vorhersagen kaum besser beschrieben werden kann, als am Beispiel eines griechischen Mythos, in dem eben dieses Orakel eine gewichtige Rolle spielt. König Laios von Theben erfährt in Delphi, dass sein Sohn Ödipus ihn eines Tages töten und mit seiner Frau eine inzestuöse Verbindung eingehen wird. Er gibt sein Kind in die Obhut eines Hirten, die Gefahr scheint gebannt. Aber wie das bei griechischen Tragödien so üblich ist: Es gibt kein Happy End. Ödipus erschlägt seinen Vater, er löst das Rätsel der Sphinx und erhält als Belohnung die Hand seiner Mutter, mit der er vier Kinder zeugt. Die Prophezeiung hat sich trotz aller Bemühungen erfüllt.
Was hat es König Laios also gebracht, zu wissen, wie die Zukunft aussieht? Zunächst scheint er dadurch einen großen Vorteil gewonnen zu haben: Er konnte reagieren, Maßnahmen ergreifen, sein Schicksal zu verändern. Und genau hier liegt die Crux. Auf Ereignisse, die in der Zukunft liegen, kann nicht re-agiert werden, denn das Ereignis, auf dass die ergriffenen Maßnahmen Bezug nehmen sollen, hat faktisch noch nicht stattgefunden. Laios reagiert also auf eine Weissagung, nicht auf die Geschehnisse, die sich erst noch abspielen. Und egal,wie diese Reaktion ausfällt, das Schicksal bahnt sich dennoch seinen Weg in die Realität.
Das Problem mit dem Determinismus
Natürlich liegt der Geschichte von Ödipus ein bestimmtes Grundverständnis der Zukunft und Freiheit zugrunde. Alles ist vorherbestimmt, die Zukunft ist nicht beeinflussbar. Man spricht auch von Determinismus. Ohne die Annahme einer deterministischen Weltordnung macht auch der Gang zum Orakel oder zum Wahrsager keinen Sinn, da ohne die Idee einer feststehenden Zukunft ihre Vorhersage schlicht unmöglich wäre. Wenn nicht feststeht, wie es weiter geht, können darüber auch keine Prognosen gefällt werden.
Andererseits tut sich dadurch natürlich ein existentielles Problem auf, wenn ich mein Wissen über die Zukunft dazu nutzen möchte, sie zu meinen Gunsten zu verändern. Denn was nützt es mir, die Zukunft zu kennen, wenn ich davon ausgehe, dass sie unabänderlich ist? Ohne die Möglichkeit einer Einflussnahme auf bevorstehende Ereignisse kann ich ihr Eintreten ebenso gut abwarten und mich überraschen lassen. Und vielleicht ist das ja auch gerade der Witz an der Sache – nicht zu wissen, was kommt. Denn dann ist es im Leben wie mit einem spannenden Buch: Es macht viel mehr Spaß, wenn man das Ende noch nicht kennt. Und wen die Neugier doch übermannt: Erika Berger liefert
entzückende Horoskope für jeden Geburtstag. Über die Vorhersagekraft lässt sich freilich streiten. Das macht die Sache dann doch wieder interessant.