VON MAXIMILIAN REICHLIN | 26.03.2014 15:02

Phantasie, sechs. Setzen – Über Bildungssysteme in China und Deutschland

Albert Einstein hat einmal gesagt: „Phantasie ist wichtiger, als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.“ Es ist erstaunlich, wie man diesen Satz zum Wahlspruch der jungen Studenten und Schüler erheben könnte, die seit einigen Jahren gegen das starre Bildungssystem Chinas rebellieren. Sie kritisieren vor allem, dass wichtige Bildungsinhalte wie Phantasie oder Kreativität auf der Strecke bleiben, während stupides Auswendiglernen und standardisierte Prüfungsformen auf der Tagesordnung stehen. Doch nicht nur in China liegt das Bildungssystem im argen, auch in Deutschland etwa leiden Studenten am verschulten Programm.

Im Jahr 2009 nahmen die Schüler der Hafenstadt Shanghai in China zum ersten Mal an der internationalen Pisa-Studie teil – und erzielten berauschende Ergebnisse. Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften, in allen drei Bereichen steht China ganz weit oben auf der Liste, in den Naturwissenschaften gar auf Platz 1. Dieses beeindruckende Ergebnis ist dem Bildungssystem der Volksrepublik geschuldet: Frühsport, Schuluniformen und täglicher Fahneneid sorgen für Disziplin, die Schultage dauern für manche Schüler oft bis 21 Uhr, danach stehen noch Hausaufgaben an. Ziel dieses wahnwitzigen Programms: Die Schüler auf die „Gaokao“, die jährlich stattfindende Prüfung für den Eintritt in Hochschulen und Universitäten, zu trimmen. Dieses System hat jedoch auch seine Schattenseiten.

Cage People - Ein Leben im Käfig

Während nämlich Wissensinhalte, die auf starrem Auswendiglernen und fixen Abläufen beruhen, etwa in der Mathematik, gezielt gefördert werden, bleiben andere wichtige Bildungsinhalte auf der Strecke. Allen voran: Phantasie, Kreativität und soziale Kompetenz. „Es sind zwei Seiten der selben Medaille.“ sagt etwa Jiang Xueqin, Vizeschuldirektor der Oberschule der Universität Peking. „Chinesische Schulen sind sehr gut darin, ihre Schüler auf standardisierte Tests einzustellen. Aus diesem Grund scheitern sie daran, sie auf eine höhere Bildung und eine wissensorientierte Wirtschaft vorzubereiten.“

Das Berufsleben dieser Studenten gestaltet sich schwierig. Nationale sowie internationale Arbeitgeber klagen über die Probleme der Absolventen aus China: Sie sind nicht in der Lage, selbstständig zu arbeiten, nicht teamfähig, können Probleme nicht unkonventionell lösen. Auch das ein Ergebnis des starren Schulsystems.

Doch nicht nur China krankt am verschulten System. Mit dem Bologna-Prozess kommen solche Probleme auch auf europäische Bildungssysteme zu: Modularisierte Studiengänge, schulähnliche Prüfungsformen, wenig Raum für selbstständige Entfaltung - auch durch Regelstudienzeiten und Mindestpunktzahlen. Studierende, die zwar nicht schnell, dafür unkonventionell und mit Leidenschaft an den Stoff herangehen, haben dann oft Probleme. Auch behinderten Studenten wird es damit nicht immer leicht gemacht: Trotz der UN-Behindertenkonvention, haben solche Studenten häufig keine Möglichkeit, einen Abschluss zu machen. Schulpsychologe und Dozent Bernhard Kamm kritisiert diesen Umstand im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung: „Was soll der freie Zugang zu allgemeiner Bildung wert sein, wenn er nicht auch zu anerkannten Abschlüssen führt?“

In China zumindest kündigt sich in den letzten Jahren Besserung an: Junge Studenten und Schüler, die sich nicht mehr durch die „Maschine“ pressen lassen wollen, rebellieren auf ihre Art gegen das Schulsystem. Sie verbrennen Lehrbücher, funktionieren die Ansprache bei der morgendlichen Fahnenzeremonie zu einer fundierten Kritik am System um oder verfassen selbst polemische Schriften, etwa der 21-jährige Student Zhong Daoran mit seinem Buch „Das verzeihe ich euch nie!“, das mittlerweile in China nicht mehr verkauft werden darf. Solche Akte der Rebellion sorgen unter den „Jiulinghou“, der Generation der nach 1990 Geborenen, für Begeisterungstürme und Nachahmungstaten, eine umfassende Schulreform ist deswegen allerdings noch nicht in Sicht.