VON JULIA ZETZ | 28.04.2014 12:47

Von hoffungsvollen Momenten und unangenehmen Wirklichkeiten

Sie mag das Unbekannte, das Unbewusste und das Unwirkliche. Sie mag es, wenn sie nicht weiß, was sie erwartet. Dieses spannende Prickeln, diese hoffungsvolle Neugierde und den Moment der Wahrheit. Das gibt ihr einen kleinen Kick. Vielleicht wollte sie auch deshalb diesen Mann treffen, den sie nur von einem unscharfen Bild kannte. Kennengelernt haben sich die beiden im Internet, ganz klischeehaft bei einer Singlebörse. Wochenlang schrieben sie sich Nachrichten, tauschten Neuigkeiten aus und erzählten sich voneinander. Und dann kam, was kommen musste: Er wollte sich mit ihr treffen. Sie zögerte keinen Moment, denn sie wollte ihn kennenlernen, diesen unbekannten Mann, diesen Menschen, der ihr so vertraut und gleichzeitig so fremd war.


Ihre Aufregung stieg von Tag zu Tag. Es wäre einfach gewesen, ihn um ein Foto zu bitten, aber das wollte sie nicht. Sie genoss dieses Gefühl, nicht zu wissen, was sie erwartet. Sie genoss diese kleine Qual, vielleicht enttäuscht zu werden. An jedem Morgen erwachte sie mit dem Gedanken, dass es bald so weit sein würde, bald würde sie wissen, wer hinter diesen sympathischen Nachrichten steckt, wer sich hinter den ganzen Gemeinsamkeiten verbirgt. Und dann kam der Tag der Wahrheit.

Ein Blick in die Zukunft

Sehen und gesehen werden

Sie war nervös. Nicht etwa, weil sie Angst hatte, das er sie nicht mögen würde. Vielmehr hatte sie Angst, dass sie ihn nicht mögen könnte. Die vielen Nachrichten dienten ihr dazu sich ein ganz eigenes Bild von ihm zu machen. Sie waren die Bausteine für ein Kunstwerk, dass sie sich in ihren Gedanken erschaffen hatte. Und es war perfekt. Natürlich wusste sie, dass er groß war, braune Augen hatte und eine sportliche Statur hatte, das stand immerhin in seinem Profil. Aber alle Details seines Körpers, seines Gesichts und seiner Ausstrahlung baute sie sich zusammen. Daraus entstand eben dieses Bild von ihm, das sie sich erhoffte zu sehen.

Mit diesem Bild im Kopf machte sie sich auf den Weg zum Treffpunkt. Er wählte ein Café das sie kannte und mochte. Sie stellte sich vor, wie sie um die Ecke bog, den Kopf hob und ihn sah. Wie im Film hoffte sie, dass dieser Moment so perfekt sein würde, dass er in Zeitlupe ablaufen würde. Ihre Blicke würden sich treffen und sie würde es wissen: Er ist es, der Eine, der Richtige.

Die Wahrheit sehen

Sie gehörte zu den Menschen, die ehrlich genug zu sich selbst waren und sich eingestehen konnten, dass Äußerlichkeiten für den ersten Eindruck sehr wichtig sind. Sie achtete selbst sehr auf sich und erwartete das auch von anderen Menschen, ganz besonders von ihm. Gleich würde sie es wissen, würde erfahren, ob er der ist, den sie sich zusammengebaut hatte.

Und da war er, der Moment, auf den sie so lange gewartet hatte. Sie bog um die Ecke, hob den Kopf und sah ihn. Er stand wie vereinbart vor dem Café, hatte eine Tulpe in der Hand. Und dieser Moment kam ihr tatsächlich ewig vor, er geschah in Zeitlupe. Sie sah ihn an, sah in seine Augen, versuchte diesem Mann neben ihren Baukasten-Mann zu stellen. Versuchte die Gemeinsamkeiten die sie beide hatten auf ihn zu übertragen. Es gelang ihr nicht. Sie fühlte sich, als würde sie ihn nicht kennen, dabei waren sie sich doch so vertraut. Ihre Blicke trafen sich und es passierte nichts. So sollte es nicht sein, so hatte sie es sich nicht vorgestellt. Noch einen Blick wollte sie riskieren, bevor sie sich entschloss einfach weiter zu gehen. Den Blick starr geradeaus, wohl wissend, dass sie es nicht gesehen hatte, das gemeinsame Leben, dass sie sich mit ihm in ihren Gedanken ausgemalt hatte.