VON PHILLIPPINE SENSMEIER | 01.06.2012 13:12

Frau Scherwitz-Gallegos über Studium und Behinderung

„Chancengleichheit besteht nicht darin, dass jeder einen Apfel pflücken darf, sondern, dass der Zwerg eine Leiter bekommt“ (Reinhard Turre). Frau Scherwitz-Gallegos, Behindertenbeauftragte des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), reicht Studenten mit Behinderung diese Leiter und erklärt UNI.DE im Interview welche speziellen Angebote und Unterstützungsmöglichkeiten es am KIT für sie gibt.

UNI.DE: Frau Scherwitz-Gallegos, Studierende mit Behinderung und chronischer Krankheit finden heute erheblich bessere Studienbedingungen vor als noch vor einigen Jahren. Nichtsdestotrotz gibt es noch viele strukturelle Defizite und Barrieren im Hochschulbereich, die Studierende neben ihrer individuellen Behinderung überwinden müssen. Seit wann sind Sie als Beauftragte für die Belange behinderter Studierender tätig und was hat sich am KIT seit Ihrer Tätigkeit verbessert?

Angelika Scherwitz-Gallegos: Seit 2010 bin ich in meiner Funktion als Beauftragte für die Belange behinderter Studieninteressierter und Studierender am KIT tätig. Für mich ging es in einem ersten Schritt darum, zu erfahren, wo Probleme, Hürden, Schwierigkeiten im Studium für behinderte und chronisch kranke Studierende liegen. Inzwischen hat sich ein grobes Bild ergeben, das sich immer weiter ergänzt und verändert, denn jeder Studierende bringt – entsprechend der verschiedensten Einschränkungen seine individuelle Thematik und Bedarfe mit. Ganz grob zusammengefasst: Es gibt nun professionelle Beratung zu festen Zeiten, ich versuche zeitnah für die Studierenden und ihre speziellen Bedürfnisse da zu sein, es gibt einen barrierefrei zugänglichen, zentral auf dem Campus gelegenen Beratungsraum , es gibt neue Angebote zu Information und Austausch der Studierenden untereinander. Das Thema Studium mit Behinderung und chronischer Krankheit wird zunehmend bei allen enger oder entfernter Beteiligten platziert, also KIT-Verwaltung, Studierendenvertretung, Lehre, Kommilitonen und andere. Dies geschieht bedarfsorientiert aber auch strategisch durch den Ausbau und die Vernetzung von Kontakten zu Einzelpersonen und Einrichtungen oder durch die Teilnahme an Veranstaltungen, Treffen, Aktionen.

UNI.DE: Sie beraten Studierende mit Behinderung und stehen ihnen für allgemeine Fragen zur Verfügung. Wie sieht Ihr Arbeitsalltag am Karlsruher Institut für Technologie aus?

Angelika Scherwitz-Gallegos: Konkret biete ich professionelle individuelle Beratung an. Es ist mir sehr wichtig, Studierenden zu vermitteln, dass Sie sich Unterstützung holen können und dass die Behindertenbeauftragte eine der ersten Anlaufstellen ist. Sie sollen erfahren, dass Ihr Anliegen ernst genommen wird, dass ihnen jemand zuhört. Gespräche finden in einem barrierefrei zugänglichen und zentral auf dem Campus liegenden Raum statt. Ich versuche, betroffene Studierende untereinander zu vernetzen, den Erfahrungs- und Informationsaustausch untereinander zu fördern und wenn möglich ein offensives Angehen des Themas Studium und Behinderung zu fördern. Also nach dem Motto: Information und Hilfe, wo nötig unter der Prämisse, die Eigeninitiative und das Selbstbewusstsein Studierender und damit ihre Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zu stärken. Dazu gibt es inzwischen ein regelmäßiges monatliches Treffen, den „Treffpunkt Studium barrierefrei“. Die Webseite der Behindertenbeauftragen www.studiumundbehinderung.kit.edu soll aktuell und informativ sein, eine Mailingliste betroffener und daran interessierter Studierender ist entstanden und wächst. Ein weiterer Schwerpunkt meiner Tätigkeit liegt darin, das Hochschulumfeld zu sensibilisieren und im Umgang mit allen Betroffenen und deren studienrelevanten Themen. Das beginnt bei der Barrierefreiheit der Gebäude – ich stelle Anträge für bauliche Änderungen und Verbesserung, zum Beispiel wurden ein einem zentralen Gebäude des KIT elektrische Türöffner angebracht, oder ein anderes Beispiel, ein mobilitätsbehinderter Studierender hat besondere Anforderungen an einen Hörsaal, so wurde ein stabiler Tisch eigens angefertigt. Das setzt sich fort in Bezug auf die Gewährung von Nachteilsausgleichen im Studienverlauf oder der Stellungnahme bei Anträgen auf Assistenz und Hilfsmittel oder Stipendien. Es ist ein unglaublich breites Spektrum an Themen mit vielen Beteiligten, deshalb sind guter Informationsfluss und Networking innerhalb des KIT ebenso zentral. Das Ganze wird im Rahmen meiner Möglichkeiten von PR-Aktivitäten begleitet. Es ist weiterhin sehr viel zu tun und Neues kommt hinzu

UNI.DE: Auf der KIT-Seite „Studium und Behinderung“ geben Sie Studierenden mit Behinderung praktische Tipps, wie sie mit ihrem Uni-Alltag besser zurechtkommen. Sie vergeben beispielsweise Aufkleber an Studenten mit Mobilitätsbehinderung, mit denen sie ihre Plätze zu Semesterbeginn reservieren können. Wie sieht die Alltagsrealität dieser Studenten aus? Werden sie von ihren Kommilitonen gleichberechtigt behandelt oder gibt es dort noch Aufklärungsbedarf?

Angelika Scherwitz-Gallegos: Hier gilt zu unterscheiden zwischen sichtbaren und unsichtbaren Behinderungen. Für Studierende ohne Behinderung ist es eine ganz andere Erfahrung, ob in der Lerngruppe ein mobilitätsbehinderter oder blinder Kommilitone oder ein Studierender ist, der chronisch krank , deshalb häufig abwesend oder mit großen psychischen Belastungen und vielleicht sogar Schmerzen versucht, am Studienleben teil zu haben. Pauschal lässt sich so nicht in Kategorien ausdrücken, wie das Verhalten untereinander ist. Da gibt es die unterschiedlichsten Erfahrungen im Miteinander, positive wie negative. Ich versuche hier durch die Information zum Beispiel mittels Flyerverteilung schon an alle Erstsemester Offenheit zu schaffen und zu sensibilisieren. Gemeinsam mit der Studierendenvertretung des KIT wurde das Thema erstmalig im vergangenen Jahr in die Orientierungsphase für Studienanfänger eingebaut in Form einer Olympiade, eines Wettkampfes unter Einsatz von Krücken und verbunden Augen. Es geht darum, Berührungsängste zu mindern, sich selbst in die Situation mit Einschränkung zu begeben und dabei auch noch gemeinsam Spaß zu erleben. Aber natürlich gilt auch hier: solche Aktivitäten sollten zur Regel werden und müssen entsprechend mit Ressourcen ausgestattet werden.

UNI.DE: Welche Mittel trägt die Landesregierung zur Unterstützung Studierender mit Behinderung bei?

Angelika Scherwitz-Gallegos: Ich hoffe auf eine gute Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in das Gefüge des Landes. Im Augenblick wird die „Hochschule für Alle“ auf allen Ebenen diskutiert. Eine stärkeres in die Pflicht nehmen von Institutionen und Trägern anhand von präzisen Vorgaben und gesetzlicher Verankerung auch in die Hochschulgesetze und die Prüfungsordnungen würde ich mir wünschen, um die Teilhabe selbstverständlicher zu gestalten.

UNI.DE: Das Deutsche Studentenwerk setzt sich mit der Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) dafür ein, dass die Vorgaben des Hochschulrahmengesetzes, sich um die Belange von Studierenden mit Behinderung zu kümmern, umgesetzt werden. Selbst Prüfungsordnungen müssen diese Belange berücksichtigen. Eigentlich sollte man meinen, dass die Regelungen Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit ermutigen, sich an den Universitäten einzuschreiben. Wie sind Ihre Erfahrungen? Wie viel Prozent entscheiden sich tatsächlich für ein Studium?

Angelika Scherwitz-Gallegos: Es gibt gesetzliche Regelungen auf Bundesebene, die UN-Behindertenrechtskonvention ist hier die aktuellste und weitestgehende Initiative. Diese werden von den einzelnen Ländern und wiederum von jeder Hochschule unterschiedlich interpretiert und umgesetzt. Gesetze sind da, bzw. werden Teilhabe und Inklusion weiter vorantreiben, bieten aber nur den Hintergrund für unterschiedliche Implementierungen. Das Deutsche Studentenwerk mit der IBS nehmen einen wichtigen sehr aktiven Part in diesem Prozess ein. Für den einzelnen Studierenden ist es jedoch so, dass er/sie diese Rechte für sich in Anspruch nehmen muss, d.h. selbst aktiv werden, sich sehr gut informieren, bestimmte Formalien und Fristen einhalten muss. Ohne Zielstrebigkeit und hartnäckiges Vorgehen – denn es gilt immer erneut Widerstände und Ignoranz abzubauen – passiert nichts. Manche Studierende wollen sich den Herausforderungen des „normalen Studienalltags“ auch bewusst stellen. Auf jeden Fall bedeutet ein Studium mit Behinderung/chronischer Krankheit immer einen Bedarf an Mehraufwand und Energie. Zahlen liegen derzeit u.a. aus datenrechtlichen Gründen nicht vor.

UNI.DE: Was sind die häufigsten Zweifel und Ängste dieser jungen Leute an die Uni zu kommen?

Angelika Scherwitz-Gallegos: Das ist so unterschiedlich wie bei allen nicht-behinderten Studierenden auch. Die Größe und Unübersichtlichkeit einer Hochschule kann abschrecken, die Sorge, den Leistungsanforderungen nicht gerecht zu werden, dies natürlich deutlich stärker, wenn eine Behinderung oder chronische Krankheit da ist oder was auch häufig vorkommt, im Studienverlauf auftaucht. Manchmal ist es schwierig, die richtigen Ansprechpartner zu finden für Fragen, die den Studienbeginnern eigentlich selbst auch unklar sind, da die Situation eine ganz Neue ist.

UNI.DE: Wie ermutigen Sie die Studieninteressierten und welche Angebote und Unterstützungsmöglichkeiten empfehlen Sie ihnen für ihr Studium?

Angelika Scherwitz-Gallegos: Meine Empfehlung ist, alle Informations- und Beratungsangebote, die es ja meist umsonst an jeder Hochschule gibt, in Anspruch zu nehmen. Sich zu überwinden und Kontakt aufzunehmen, Fragen zu stellen, alle Fragen, die da sind, um sich so bestmöglich mit Informationen zu versorgen. So lassen sich Unsicherheiten abbauen und Entscheidungen leichter treffen. Es gibt Uni-für-Einsteiger-Tage, es gibt die zentrale Studienberatung, die Studentenwerke mit Beratungsangebote auch für Studierende mit psychischen Problemen und an jeder Hochschule eine/n Behindertenbeauftragte/n. Diese Stelle anzulaufen ist immer empfehlenswert, denn hier gibt es unmittelbare Unterstützung wenn es um Nachteilsausgleiche (also Änderung der Prüfungsmodalitäten, Zeitverlängerung usw.) geht. Durch schlechte Information oder Beratung – die es leider auch gibt – sollte man sich nicht gleich abschrecken lassen, sich überlegen, was die eigenen Ziele sind, wo man hinwill und vor allem welche Unterstützung man genau braucht. Das bedingt, dass man sich mit seiner Behinderung/chronischen Krankheit auseinandersetzt. Eine Hochschule muss die Unterstützung bereit stellen, die gebraucht wird, oder schauen, auf welche Weise und mit welchen Mitteln der Studierende sein Studium erfolgreich und hoffentlich auch zufrieden umsetzen kann. Dabei sind die Wege individuell, manchmal kreativ, immer jedoch muss man auch seine Mitmenschen überzeugen. Befürchtungen und Unwissenheit, die große Barriere aufbauen können, lassen sich meiner Erfahrung nach am besten durch Information und Gespräche aller Beteiligten beseitigen.

UNI.DE: Rein formell: Wie können Studieninteressierte Sie am besten erreichen und wann können sie in Ihre Sprechstunden kommen?

Angelika Scherwitz-Gallegos: Meine Kontaktdaten finden sich auf der Webseite. Beratungen führe ich nach Terminabsprache durch, auch telefonisch oder per E-Mail. Im Grunde ist jeder willkommen, der Interesse an einem Studium am KIT hat oder dort schon ist. Auch Eltern, Assistenz oder Hochschullehrer können sich mit Fragen zum Studium mit Behinderung/chronischer Krankheit an mich wenden.

UNI.DE: Die Broschüre Studium und Behinderung des Deutschen Studentenwerks informiert über alle Aspekte rund ums Thema Studieren mit Behinderung. Welche zusätzlichen Informationen können Sie den UNI.DE-Lesern noch ans Herz legen?

Angelika Scherwitz-Gallegos: Die Broschüre Studium und Behinderung des DSW ist vollständig, immer aktuell und informiert über weiterführende Kontakte. Das ist eine sehr gute Ausgangsbasis. Je nach Behinderung/chronischer Krankheit bieten die verschieden Verbände oft Beratung unterschiedlichster Art zum Studium. Es gilt seinen eigenen Anforderungen gemäß zu recherchieren. Infos sind oft gestreut, aber reichlich da.

Über die hochschulspezifischen Angebote und Möglichkeiten informiere man sich immer vor Ort, es gibt viele Unterschiede in Betreuung und Service. So gibt es Hochschulen, die wie das KIT einen Schwerpunkt für sehgeschädigte Studierende haben (Studienzentrum für Sehgeschädigte), andere wieder können viel Erfahrung aufweisen in der Betreuung von Studierenden mit Autismus oder Hörbehinderung. Für die Hochschulen ist es wichtig, zu wissen, welche Anforderung auf sie zukommt, um rechtzeitig planen, organisieren und sich darauf einstellen zu können.

UNI.DE: Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft am KIT?

Angelika Scherwitz-Gallegos: Für die Zukunft meiner Tätigkeit wünsche ich mir verstärkt Unterstützung für meine Arbeit durch Ressourcen wie Räume und Budget, bei der Entwicklung wie sie jetzt läuft auch eine Ausweitung der derzeitigen 50%-Stelle. Vor allem aber wünsche ich mir Anerkennung und Wertschätzung für diese Arbeit und damit auch für die Betroffenen. Offenheit für Flexibilisierung von Rahmenbedingen des Studiums sowie ein achtsamer Umgang miteinander im Alltag böte gute Arbeitsvoraussetzungen. Zuletzt eine bessere generelle Einbindung des Themas in das Werden und die Entwicklung des KIT durch die Möglichkeit der Mitgestaltung und Mitwirkung an KIT-internen Prozessen, die Struktur wie auch die Lehre betreffend. Auf persönlicher Basis kann ich von vielen positiven Erfahrungen am KIT berichten, viele einzelne Mitarbeiter, von Hausmeistern bis zu Professoren sind bereit, schnell, verbindlich und unbürokratisch Wege zu ebnen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

UNI.DE: Vielen Dank für Beantwortung Ihrer Fragen und alles Gute für Sie und Ihre Beratungsstelle.

Die Fragen stellte Phillippine Sensmeier