VON CLEMENS POKORNY | 05.02.2016 14:12

Schulwesen und Lehrerbildung: Von Sündenböcken und Sonntagsreden

Lehrer sind die Deppen der Nation. Mit diesem Sarkasmus umschreiben Betroffene einerseits das Vorurteil, sie seien für besser bezahlte Berufe zu dumm, und andererseits den Status als Buhmänner, die für viele Fehler im System Schule den Kopf herhalten müssen. Die Vorurteile gegenüber Lehrkräften halten sich auch deshalb so hartnäckig, weil viele glauben, sich mit der Schule auszukennen, schließlich hat jeder Erwachsene mehrere Schulen besucht. Die Politik könnte zum Wohle aller Beteiligten etwas ändern – aber wohl nur auf öffentlichen Druck hin.


Sonntagsreden gehören zu den übelsten Bestandteilen des politischen, zuweilen auch des privaten Diskurses. Und leider werden sie nicht nur an christlichen Feiertagen gehalten. Fast zwei Wochen lang überboten die Staatenlenker sich Ende vergangenen Jahres in Paris darin, noch ehrgeizigere Klimaschutzziele zu formulieren als bisher schon. Warum der menschengemachte Klimawandel dennoch immer schneller voranschreitet? Das liegt nicht nur daran, dass sich die Auswirkungen heutiger Änderungen erst mehrere Jahrzehnte später bemerkbar machen. Sondern auch daran, dass Sonntagsreden und -beschlüsse völlig ausreichen, um die besorgten Menschen zu beruhigen: Erstens bleiben allenfalls wenige, ehrgeizige Journalisten an der Sache dran und recherchieren über Jahre hinweg, inwieweit politische Versprechen auch tatsächlich eingelöst werden. Und zweitens bestehen die umzusetzenden Maßnahmen nicht nur in diesem Fall aus vielen einzelnen Schritten, die sich kaum überblicken lassen.

Neben der Klimapolitik ist ein weiteres, ideologisch ebenfalls höchst umstrittenes Politikfeld von Sonntagsreden betroffen: die Schulpolitik. Seit Jahren predigen Politik und Erziehungswissenschaft die Bedeutsamkeit der Bildung als einziger nennenswerter Ressource unseres Landes, die es als solche finanziell bestmöglich zu fördern gelte. Man fordert die besten Köpfe für den Beruf der Lehrkraft und mehr Lehrerstellen. Die Realität bleibt eine andere: Auch der neueste OECD-Bericht bescheinigt Deutschland eine unterdurchschnittliche Finanzierung des Bildungssektors (gemessen an Prozent vom BIP). Lehrerstellen werden wegen des demographischen Wandels vermehrt abgebaut, sodass die Schulklassen weiterhin zu groß bleiben. Lediglich bei den Grund- und Hauptschulen kann wegen der hohen Zahlen von Immigranten im schulpflichtigen Alter mit kurzzeitig steigenden Lehrer-Einstellungszahlen gerechnet werden.

Lehramt – Beruf mit Zukunft?

Und ironischerweise lästert so mancher Erziehungswissenschaftler, der öffentlich „die besten Köpfe“ für den Lehrberuf fordert, hinter den Kulissen über die Dummköpfe, die angeblich an deutschen Schulen unterrichten. Bei kaum einem anderen Berufsfeld ist öffentliche Schelte so populär wie hier. Kein Wunder: Allein deshalb, weil sie selbst Schulen besucht haben, halten sich nicht wenige für befähigt, über den Lehrberuf ein Urteil abgeben zu können. Werden solche Menschen dann Eltern, machen sie sich zudem nicht selten die subjektive Sichtweise ihrer Kinder zu eigen, bei denen eine Lehrperson dann schlecht ankommt, wenn sie nicht jedem gute Noten gibt oder gar, dem Zeitgeist zum Trotz, nicht jeden Deppen zum Abitur oder Realschulabschluss durchwinkt. Anspruchsvolle Pädagogen werden dann von Eltern schnell als engstirnige Pedanten verunglimpft, die ihr Fach zu wichtig nähmen.

Der Vorwurf, Lehrer seien wie andere im öffentlichen Dienst Tätige nicht immer die Schlauesten und hätten Lehramt nur deshalb studiert, weil sie für andere Studienfächer zu schlecht oder zu faul gewesen seien, lässt sich leicht entkräften. Ein Studium der Mathematik, der Physik oder der alten Sprachen etwa bewältigen nur überdurchschnittlich gute und fleißige Studierende. Und in fast ganz Westdeutschland gibt es derzeit viel mehr fertige Lehrkräfte als offene Stellen, sodass ohnehin nur die Besten unter ihnen eingestellt werden – also solche Kandidaten, die auch gute Ärzte oder Staatsanwälte geworden wären. Will die Politik aber das Problem der hohen Lehrerarbeitslosigkeit lösen und zugleich das Ansehen des Lehrberufes steigern, sollte sie, gerade angesichts immer höherer Studentenzahlen, die Einführung eines Numerus Clausus für alle Lehramtsstudiengänge erwägen. Steht einem Bundesland eine Verrentungswelle unter den Lehrkräften bevor, könnten die Studienplätze dann kurzfristig aufgestockt werden.

Doch Reformen im Lehramtsstudium alleine dürften nicht ausreichen. Viele Eltern beklagen oftmals mit Recht Fachidiotentum und fehlende Sozialkompetenz unter den sogenannten Pädagogen, vor allem am Gymnasium. Das ist bis zu einem gewissen Grad die Kehrseite eines anspruchsvollen Universitätsstudiums mit zu geringen Praxisanteilen. Rheinland-Pfalz versucht das Problem in den Griff zu bekommen, indem es bei der Einstellung von Gymnasiallehrern die Noten aus 1. Staatsexamen (= Fachstudium) und 2. Staatsexamen (= Vorbereitungsdienst vulgo Referendariat) im Verhältnis 1:4 gewichtet, also den pädagogischen und methodischen Kompetenzen ein starkes Übergewicht gegenüber der Fachkompetenz einräumt. Zurecht: Denn nicht gescheiterte Nachwuchswissenschaftler sollten Lehrkräfte werden, sondern leidenschaftliche Pädagogen, deren fachliche Kenntnisse einen unverzichtbaren Teil zu ihrer Autorität beitragen, ohne dass ihr Wissen aber weit über das für die Schule Nötige hinausgehen müsste. Leider steht Rheinland-Pfalz zumindest im Süden Deutschlands ziemlich alleine da: Hessen verrechnet die beiden Examensnoten nur 2:3, und Baden-Württemberg und Bayern gar 1:1.

Nicht zuletzt haben viele Lehrkräfte den Eindruck, als Sündenböcke für Fehler im System Schule herhalten zu müssen. Doch wer in unserer pluralistischen Demokratie mit politischen Entscheidungen unzufrieden ist, ist aufgefordert, daran etwas aktiv zu ändern. Dazu reicht es mittelfristig nicht aus, nur zu benennen, was schlecht läuft. Wir bräuchten eine gesellschaftliche Debatte, in der ausgehandelt würde, wie denn ein (bundesweit einheitliches) Schulwesen aussehen sollte. Daran müssten sich alle betroffenen Gruppen beteiligen. Doch solange alle nur darauf warten, dass jemand anders den Anfang macht, und solange Eltern sich von Sonntagsreden einlullen lassen, wird sich nichts ändern.