VON CLEMENS POKORNY | 22.11.2012 16:08

Das erste offene und freie elektronische Schulbuch Deutschlands?

Wenn alles klappt, startet 2013 ein besonderes Schulbuchprojekt: Alle Interessierten können gemeinsam an einem Biologie-Lehrbuch arbeiten, das schon ab dem nächsten Schuljahr als E-Book zur freien Verfügung stehen könnte. So soll langfristig die kollektive Intelligenz im Internet, deren sich schon Projekte wie die Wikipedia bedienen, eine Kultur der freien Bildungsmaterialien hervorbringen.

PISA, IGLU, TIMSS, TALIS, DESI, VERA, LUST oder auch LAU: Die Leistungen deutscher Schüler sollen besser werden, wie nicht nur die OECD findet, und deshalb wurden und werden seit etwa der Jahrtausendwende gleich mehrere nationale und internationale Vergleichsstudien zur Unterrichtsqualität durchgeführt. Teilweise haben ihre Ergebnisse bereits zu einer Veränderung der Lehrpläne geführt. Die anhaltende Bewegung im Schulwesen hat allenthalben die Erarbeitung neuer Lehrwerke erforderlich gemacht. Und kaum hat sich eine Schule ein neues Lehrbuch in fünf Klassensätzen pro Jahrgangsstufe angeschafft, ist es schon wieder veraltet...

Pisa gerade rücken

Die Kosten für diesen enormen Bedarf an Schulbüchern werden in Bayern seit dem Schuljahr 2005/06 den Eltern in Form von Büchergeld aufgebrummt. Jenseits der Frage, wie viel dem Staat – also uns allen – Bildung als einzige relevante Ressource dieses Landes wert sein sollte, eröffnet sich nun mit einem Online-Projekt eine völlig neue Möglichkeit, Lehrwerke auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft und obendrein noch billig zu halten: Ein E-Book, das von jedermann jederzeit verbessert werden darf und allen kostenlos zur Verfügung steht.

Mit dem Schulbuch-O-Mat haben zwei Berliner – ein Medienprofi und ein Lehrer – die Grundlage für freie Schul-E-Books gelegt. Ihre Vision: Zum Schuljahr 2013/14, soll ein lehrplankonformes Biologie-Lehrwerk für die 7. und 8. Klassen der Berliner Sekundarstufe I erarbeitet werden, und zwar von Freiwilligen im Internet. Ähnlich wie in der Wikipedia (oder anderen Projekten der Wikimedia Foundation), die Studien zufolge längst besser ist als der kommerzielle Konkurrent Brockhaus, soll also für die Erstellung des E-Books die Schwarmintelligenz genutzt werden. Das so entstehende Lehrwerk wird Inhalte versammeln, die bisher im Internet und anderen Open-Education-Quellen wie zum Beispiel der Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet verstreut liegen, und unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation stehen.

Obwohl das Biologie-Lehrbuch von ehrenamtlichen Autoren geschrieben werden soll, sammeln die Initiatoren noch bis Mitte Januar 2013 über die Crowdfunding-Plattform www.startnext.de Spenden. Mit diesen sollen unter anderem ein Chefredakteur mit methodisch-didaktischer Kompetenz sowie der Betrieb des Schulbuch-O-Mats finanziert werden. An den ersten 5 Tagen des zweimonatigen Sammelzeitraums wurden bereits über 13% des benötigten Geldes gestiftet, die Projektseite registriert viele positive Rückmeldungen.

Freilich birgt das relativ junge Feld der Open Education noch viele Probleme, wie ein Protokoll der Anhörung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und der Kultusministerkonferenz (KMK) zu Open Educational Resources (OER) vom 8. November 2012 zeigt. Die Reaktionen von Seiten der Verantwortlichen war verhalten optimistisch; unter anderem wurde befürchtet, dass unqualifizierte Möchtegernpädagogen zu großen Einfluss auf die Konzeption von Lehrbüchern nehmen könnten, deren Qualität darunter litte. Hans und Heiko, die Gründer des Schulbuch-O-Mats, betrachten das geplante Biologie-Buch denn auch als ersten Test. Wenn aber das gemeinsam erarbeitete Lehrwerk staatlich zugelassen wird, wollen sie ihre Idee auf andere Fächer und Stufen ausweiten. Denn sie verfolgen ein hohes Ziel, welches das Bildungssystem in Deutschland stärker umkrempeln könnte als alle Studien und Reformen zusammen: „Wir möchten mit unserem Projekt eine Kultur der freien Bildungsmaterialien einläuten.“