VON CLEMENS POKORNY | 02.10.2013 13:44

Religionsunterricht

Wir leben in einem zunehmend säkularen Land. Während die Zahlen der Katholiken und der Protestanten in Deutschland seit Jahren rückläufig sind und sich gleichzeitig die Vielfalt der Religionen seit Bestehen der Bundesrepublik deutlich erhöht hat, stellen heute Konfessionslose die relative Mehrheit der Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund lässt sich die immer noch weit verbreitete faktische Bevorzugung der beiden großen christlichen Kirchen in den Bildungssystemen der Länder nur mehr schwer nachvollziehen. Warum wird der Religionsunterricht als Pflichtfach nicht vom Ethikunterricht abgelöst?

"Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach." (Art. 7 Abs. 3, Satz 1 GG) So weit, so klar. Doch ein Blick auf die historische Situation, in der das Grundgesetz entstand, relativiert die Bedeutung dieses Satzes: 1949 gab es in Deutschland kaum andere Religionen als die christliche, auch Konfessionslose waren in den Schulen weitgehend unbekannt. Die Väter und Mütter der Verfassung konnten sich wohl nicht vorstellen, dass es einmal eine relevante Zahl an Muslimen in der Bundesrepublik geben könnte – und dass Konfessionslose nur sechzig Jahre später eine relative Mehrheit stellen würden. Werden deren Interessen gewahrt?

Kruzifix vs. Kopftuch

"Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden." (Art. 140) Zählt auch der Religionsunterricht zu "religiösen Übungen"? In Hinblick auf religiöse Beschulung sieht die Verfassung jedenfalls fest: "Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen." (Art. 7, Abs. 2). Die sogenannte Religionsmündigkeit erreicht ein Kind erst mit 14 Jahren – und nicht in allen Bundesländern kann ein Kind auf eigenen Wunsch schon vor Erreichen dieses Alters von der Teilnahme am Religionsunterricht befreit werden: In Bayern etwa bestimmen die Erziehungsberechtigten bis zur Volljährigkeit ihres Kindes darüber, welches weltanschauliche Fach ihr Kind besucht. Davon ausgenommen sind nur diejenigen Schüler, die (nach Erreichen der Religionsmündigkeit) aus der Kirche austreten.

"Es besteht keine Staatskirche." (Art. 140 GG) Die Realität sieht anders aus: So zieht der Staat beispielsweise die Kirchensteuer ein oder alimentiert, nach Bundesländern differenziert, deren Würdenträger. Denn nach der Säkularisierung wurden für die beiden großen christlichen Kirchen unter anderem mit dem Reichsdeputationshauptschluss (1803) Entschädigungszahlungen beschlossen, die allerdings schon seit Inkrafttreten der Weimarer Verfassung (1919) mit entsprechenden Landesgesetzen auszusetzen sind (§ 138, fortgeschrieben in Art. 140 GG). Diesem "Ablösebefehl" ist die Bundesrepublik bis heute nicht nachgekommen; stattdessen hat sie nach Berechnungen der atheistischen Humanistischen Union alleine seit 1949 umgerechnet knapp 15 Mrd. Euro an Staatsleistungen an die Kirchen gezahlt. Ein im Sommer von der Linksfraktion in den Innenausschuss des Bundestages eingebrachter Gesetzentwurf für die Umsetzung des Ablösebefehls, der sogar eine weitere hohe Einmalzahlung als abschließende Entschädigung vorsah, scheiterte am Widerstand aller anderen Parteien außer Bündnis 90/Grünen.

"Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates." (Art. 7, Abs. 1 GG). Und obwohl dieser keine Glaubensgemeinschaft zur Staatskirche erhoben hat, hängt in jedem bayerischen Klassenzimmer ein Kreuz. Nach dem "Kruzifix-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts von 1995 fügte die bayerische Staatsregierung flugs Art. Abs 3 in das Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen ein, dessen 1. Satz lautet: "Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht." Damit befindet sich Bayern nach wie vor im eklatanten Widerspruch zum Verfassungsgerichtsurteil, das sein Urteil unter anderem damit begründet hatte, dass das christliche Kreuz nicht als lediglich kulturelles Symbol betrachtet werden könne. Zwei bayerische Lehrer haben seitdem versucht, eine Einzelfallregelung zu erzwingen, um nicht in Klassenzimmern mit Kreuz unterrichten zu müssen. Nur einer hatte Erfolg; ironischerweise beruhte seine Klage ausgerechnet auf christlichen Argumenten.

"Artikel 7 Abs. 3 Satz 1 [= Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach] findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand." (Art. 141 GG, "Bremer Klausel"). Nach einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2010 spricht sich eine Mehrheit der Mandatsträger aller großen Parteien außer CDU/CSU gegen Religionsunterricht als bundesweites Pflichtfach aus. Als Konsequenz daraus müssten SPD, Die Linke und Bündnis 90/Grüne die Verfassung ändern. Doch solange dies nicht geschieht, ist die Ersetzung des Religionsunterrichtes als Pflichtfach durch ein Pflichtfach Ethik o.ä. nur in den oben beschriebenen Ausnahmefällen möglich. In Berlin wurde dies im Jahr 2006 verwirklicht; Religionsunterricht kann dort seitdem als Wahlfach zusätzlich zum Ethikunterricht belegt werden. In Bayern dagegen bleibt Ethik ein "Desasterfach" mit schulartübergreifend über 90% fachfremder Unterrichtung, also durch Lehrkräfte, die das Fach überhaupt nicht studiert haben. Es bleibt abzuwarten, ob die Politik eines Tages den Mut finden wird, die Verfassung den veränderten Realitäten anzupassen.