VON LISI WASMER | 11.08.2014 13:53

Orthorexia Nervosa - Krankhaft gesunde Ernährung

Viel Obst und Gemüse, wenig Kohlenhydrate, nicht zu viel Fett – eine gesunde Ernährung ist kein Hexenwerk. Und trotzdem: Noch nie haben wir uns mehr Gedanken über unsere Essgewohnheiten gemacht als heute. Gammelfleisch-Skandale, Genmais-Diskussionen und nicht zuletzt die Diät-Industrie mit all ihren Büchern, Präparaten und Lehrvideos bringen uns dazu, unseren Speiseplan immer genauer zu kontrollieren. Wo kommt mein Essen her? Was ist drin? Wie viel von was ist gut für mich? Aber die ständige Beschäftigung mit dem eigenen Essverhalten kann auch zur Krankheit werden.


Erst war es der Rinderwahn, später kam der Pferdefleisch-Skandal, dann zeigte RTL: Nicht mal bei Burger King kann man sich noch der Qualität des Fleisches sicher sein. Deutschland ist entsetzt. Das Streben nach einem gemeinhin als gesund angesehen Lebensstil ist in unserer Gesellschaft mindestens so weit verbreitet wie der Stolz auf die Fußballnationalmannschaft. Das merkt man im immer volleren Bioladen um die Ecke, man merkt es in den Werbepausen im Fernsehen und man merkt es – leider – auch in den Behandlungszentren von Einrichtungen zur Hilfe bei Essstörungen.

Die Macht der Angst

Gesunder Wahnsinn

Eine gesunde Ernährung macht glücklich. Das suggeriert uns nicht nur die Lebensmittelindustrie, die sich schon lange weg von Dickmachern und hin zu Light-Produkten oder dem Lifestyle-Produkt Salat orientiert hat. Es stimmt auch schlicht und ergreifend. Eine gesunde Ernährung ist gut für unseren Körper, sie kann unsere Gehirnaktivität optimieren und sogar positive Auswirkungen auf unser Sexleben haben. Letzteres berichtet zumindest die Bild-Zeitung. Gleichzeitig gibt es natürlich unzählige Mythen darüber, welche Konsequenzen unsere Essgewohnheiten auf unseren Körper, unseren Geist und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen haben – ebenso wie es unzählige Theorien dazu gibt, was denn nun eigentlich eine gesunde Ernährung ausmacht.

Eine bedenklich anmutende Meinung hierzu ist etwa die von Freelee the Banana Girl. Die Australierin litt in ihrer Jugend unter Magersucht und Bulimie, heute schwört sie auf vegane Rohkost, verschlingt am Tag auch schon mal bis zu 50 Bananen und versucht in Videos, Artikeln und ihrem eBook „Go Fruit Yourself“, andere für ihre Essgewohnheiten zu gewinnen. Abgesehen davon, dass es sie laut eigener Aussage knapp 20 Kilogramm leichter gemacht hat, habe ihr die Ernährungsumstellung außerdem die Energie gegeben, Australien in 40 Tagen mit dem Fahrrad zu durchqueren.

Auch in England ist der Rohkost-Hype längst keine Neuheit mehr. 2009 veröffentlichte der Regisseur Rowan Deacon eine Dokumentation mit dem Titel „Health Food Junkies“, in der Menschen mit einem außergewöhnlichem Diätplan porträtiert werden: Die sogenannten „Raw Foodists“ essen keinen Weizen, keine Molkereiprodukte, keinen Zucker, kein Fleisch, keinen Fisch. Und das Wichtigste: Nichts, was auf den Teller kommt, darf über 45 Grad erhitzt werden, um wertvolle Enzyme und Nährstoffe zu erhalten. Rowan Deacons Film zeigt auf eindrückliche Weise, wie aus einem vermeintlich gesunden Ernährungsstil eine ungesunde Obsession werden kann. Keine Magersucht. Keine Bulimie. „Orthorexia Nervosa“ ist der Fachbegriff für dieses gestörte Verhältnis zum Essen.

Weder Ess- noch Zwangsstörung

Im ICD-10, dem von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen Diagnoseklassifikationssystem, sucht man bisher vergeblich nach dieser Krankheit. Dabei stammen erste Beobachtungen dazu bereits aus den späten 1990er Jahren. Steven Bratman veröffentlichte im Oktober 1997 einen Artikel im „Yoga Journal“, der beschrieb, wie er selbst vom Versuch einer möglichst gesunden Ernährung hin zu einer krankhaften Besessenheit für „richtiges Essen“ abrutschte. Es war dieser Aufsatz, der die Bezeichnung „Orthorexie“ prägte (ortho = gr. „richtig, korrekt“, orexis = gr. „Appetit“).

Trotz der begrifflichen Nähe darf aber nicht davon ausgegangen werden, Orthorexie könne mit Essstörungen wie Anorexia Nervosa in einen Topf geworfen werden. Es handle sich vielmehr um eine „verhaltenspsychologische Ernährungsstörung“, zitiert der „Stern“ Professor Reinhard Pietrowsky vom Institut für experimentelle Psychologie der Universität Düsseldorf, wo auch ein Test zur Diagnose der Krankheit entwickelt wurde. Was eigentlich zu einer höheren Lebensqualität führen soll, wird mehr und mehr zu Einschränkung im Alltag. Die Gedanken drehen sich mehrere Stunden am Tag um das Thema Ernährung, die Auswahl „erlaubter“ Lebensmittel wird zunehmend eingeschränkt. Auch das Sozialleben leide unter der Erkrankung, zumal Orthorektiker dazu neigen, ihre Mitmenschen geradezu missionarisch von den Vorteilen ihres Ernährungsstils zu überzeugen, wie Professor Ulrich Vorderholzer, ärztlicher Direktor der auf die Behandlung von Essstörungen spezialisierten Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, in einem Beitrag des Bayerischen Rundfunks erklärt.

Und auch wenn es ein wenig danach klingt: Orthorexie wird von Fachleuten nicht als Zwangsstörung verstanden. Denn Patienten mit Zwangsstörung empfinden diese häufig als etwas Fremdes, etwas Äußerliches, dessen Sinnlosigkeit sie zwar durchschauen, gegen das sie sich aber nicht wehren können, erklärt Dr. Bernhard Oscen, Chefarzt für psychosomatische Medizin in der Schön-Klinik Bad Bramstedt. Orthorektiker hingegen sähen das nicht so. Sie nehmen ihr Essverhalten als natürlich wahr, als erstrebenswert, richtig und alternativlos.

Krankheitsbild oder Veganer-Mobbing?

Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen. „Da mit der Orthorexie Symptome verschiedener Störungen einhergehen, wird sie unter anderem in die Ess-, Zwangs- oder somatoformen Störungen eingeordnet, aber auch der Hypochondrie oder der anamkastischen Persönlichkeitsstörung zugerechnet“, heißt es in einem Beitrag von Dr. Marion Sonnenmoser in der „Ärzteblatt“-Ausgabe vom Januar 2014 (S.25).

Abgesehen von der Ungewissheit, ob Orthorexie als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt oder doch eher einer bereits anerkannten Krankheit zugeschrieben werden sollte, bleiben auch Stimmen nicht aus, die Orthorexie an sich als Dramatisierung und Hetze empfinden, wie beispielsweise der erste Kommentar unter einem „Spiegel-Online“-Artikel zum Thema belegt: Sinngemäß heißt es dort, Orthorexie sei nichts als ein „rhetorisches Kampfmittel“, „um Veganer und Vegetarier zu beleidigen“.

Fernab solcher Polemiken ist freilich klar: Nicht jeder, der auf eine gesunde Ernährung achtet, ist automatisch gefährdet, Orthorexie zu entwickeln. Die geschätzte Prävalenz in Deutschland liegt derzeit laut Sonnenmoser bei zwei Prozent. Fakt ist aber auch: Es gibt Menschen mit einer ungesunden Obsession für gesundes Ernährung, die beispielsweise zu Mangelernährung und sozialer Isolation führen kann.