VON CLEMENS POKORNY
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20.07.2016 10:57
Bedingung moralisch guter Handlungen: Gewissensfreiheit
Gesetze und Moral schränken die Zahl der uns möglichen Handlungen in fast jeder Lebenssituation ein. Doch sie stehen nicht immer im Einklang damit, was unser Gewissen uns zu tun vorschreibt. In einigen Fällen räumt sogar das Grundgesetz ein, dass wir uns Forderungen mit Verweis auf unsere Gewissensfreiheit, d.h. Recht auf das Treffen von Entscheidungen ohne äußeren Zwang, widersetzen dürfen.
„Ich habe von Kindheit an eine Art Stimme wahrgenommen, die mich jedes Mal, wenn sie sich einstellt, davon abhält, was ich jeweils tun möchte, niemals aber zu etwas ermuntert.“ So beschrieb laut Platon der griechische Philosoph Sokrates im Jahr 499 vor Beginn unserer Zeitrechnung vor Gericht sein heute weltbekanntes „Daimonion“. Seine innere Stimme war eindeutig eine moralische Instanz – und Platons Text dürfte somit der älteste Beleg dafür sein, was wir heute „Gewissen“ nennen.
Als Instanz in unserem Bewusstsein, die unsere Urteile bestimmt, drängt es uns dazu, uns für oder gegen eine mögliche Handlung zu entscheiden. (Sokrates' Perspektive ließe sich retten, wenn man die Entscheidung für eine Handlung als Entscheidung gegen eine andere oder gegen das Nichtstun auffasst.) Schon als Kinder erleben wir die „Stimme unseres Gewissens“, wie wir auch 2500 Jahre nach Sokrates sagen. In der in Deutschland wirkmächtigen Philosophie Immanuel Kants leitet sich aus dem Gewissen das moralische Prinzip des „Kategorischen Imperativs“ her. Vereinfachte Kurzfassung: Handle stets nach demjenigen Grundsatz, von dem du wollen kannst, dass er allgemein gelte. Interessanterweise verteidigte Kant uneinsichtig eine angeblich zwingende Folgerung aus dem Kategorischen Imperativ: Aufgrund des allgemein gültigen Verbots, andere zu belügen, sei es mir auch nicht erlaubt, einem Schergen eines Unrechtsregimes zu verschweigen, dass sich ein von der Staatsmacht verfolgter Unschuldiger in meinem Haus versteckt halte. Heute widersprechen fast alle Philosophen (und auch ganz gewöhnliche Menschen) dem großen Königsberger in diesem Punkt. Sie argumentieren: Gerade das Gewissen zwingt uns in diesem Fall, vom Lügenverbot abzusehen und Freiheit und Leben des Verfolgten zu bewahren.
Insbesondere in solchen Dilemmasituationen hilft uns das Gewissen also, uns so zu entscheiden, dass wir danach mit uns selbst im Reinen sind und uns nichts vorzuwerfen haben. Ganz offensichtlich muss die von uns gewählte Handlungsalternative mit unseren Werten im Einklang stehen. Diese können so stark sein, dass sie uns daran hindern, einem Gesetz Folge zu leisten. Beispielsweise verweigern manche pazifistisch eingestellte Deutsche die Zahlung eines Teils ihrer Einkommensteuer mit der Begründung, dass dieser Anteil laut offiziellen Statistiken für Armee und Rüstung ausgegeben werde und ihr Gewissen es ihnen verbiete, für solche Zwecke Geld bereitzustellen.
„Grenzerfahrung“ – Ein Blick hinter die Kulissen
Über die Grenzen in uns, die Grenzen um uns und über die Grenzen hinaus
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Eine solche Verweigerung ist in Deutschland unzulässig. Dagegen darf
laut Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes niemand zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Daraus leitete sich jahrzehntelang der Zivildienst als Ersatz des Wehrdienstes ab. Dem Gewissen wird zugestanden, dass es frei von äußerem Zwang entscheiden dürfe, ob der Betreffende ein Tötungsinstrument benutzt oder nicht (
Gewissensfreiheit). Auch die Abgeordneten im Deutschen Bundestag sind nur ihrem Gewissen verpflichtet und bei Abstimmungen über Gesetze – zumindest rein rechtlich – an keine äußeren Zwänge gebunden.
Vor allem aber rechtfertigen sich diejenigen Menschen, die
zivilen Ungehorsam üben, manchmal mit ihrer Gewissensfreiheit. Um auf Missstände in der Gesellschaft aufmerksam zu machen, also im Hinblick auf überindividuelle Ziele, übertreten sie Gesetze – weil ihr Gewissen sie dazu drängt. Abgesehen von der juristischen Bewertung ihres Handelns stellt sich die Frage nach der ethischen: Auf welche Werte gründen sich ihre Gewissensentscheidungen? Sind es verallgemeinerbare Grundsätze im Sinne des Kategorischen Imperativs oder dienen sie nur dem Interesse der Betroffenen? Und führen die mit der Gewissensfreiheit begründeten Handlungen zu Ergebnissen, die die Handelnden verantworten können?
Es gäbe noch mehr Fragen zu betrachten, etwa diejenige nach der Reifung unseres Gewissens aus entwicklungspsychologischer Perspektive. Doch auch aus dem bisher näher Ausgeführten lässt sich schon einiges Bedenkenswerte zusammenfassen: Gewissensfreiheit ist ein elementares Gut unserer Demokratie. Welche Entscheidungen von ihr geschützt werden, hängt von unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung und den in ihr dominierenden Werten ab. Und immer wenn das Gewissen, wie schon bei Sokrates, seine Stimme erhebt und moralischen Druck auf uns ausübt, stehen wir vor der Aufgabe, sorgfältig abzuwägen. Gewissensfreiheit enthebt uns daher unserem eigenständigen Denken nicht, sondern zwingt uns zur Verantwortung in der Auswahl aus der Vielzahl der uns möglichen Handlungen.