VON LISI WASMER | 24.01.2014 15:46

„Grenzerfahrung“ – Ein Blick hinter die Kulissen

Es gilt als Phänomen unserer Zeit. Vielleicht war es aber auch schon immer so. In einer sich rapide entwickelten Welt - sei es im Sinne einer wachsenden Vernetzung, der Industrie, der Technik – entfalten sich täglich neue Möglichkeitsräume. Aber im selben Tempo, in dem sich unsere (Handlungs-) Perspektiven erweitern, arbeiten wir daran, sie systematisch einzugrenzen. Wir greifen nach den Sternen und klopfen uns dabei selbst auf die Finger. Die Gründe sind hierbei ganz unterschiedlicher Natur: Es können ethisch-moralische Überlegungen sein, wie sie zum Beispiel bei der gesetzlichen Regelung von pränataler Diagnostik eine gewichtige Rolle spielen; oder etwa eine Frage der Politik, wie wenn wir von geöffneten Landesgrenzen innerhalb der EU sprechen. Es gibt abstrakte Grenzen wie die Armutsgrenze, aber auch ganz konkrete Grenzen wie einen Gartenzaun. Grenzen begegnen uns überall. Aber wer setzt sie? Brauchen wir Grenzen? Und ist eine Begrenzung gleichzusetzen mit einer Beschneidung unserer Freiheit?

Was ist wohl schwerer einzugrenzen als der Begriff der „Grenze“ selbst? Der Duden definiert eine Grenze als „Trennungslinie zwischen Gebieten, die im Besitz verschiedener Eigentümer sind oder sich durch natürliche Eigenschaften voneinander abgrenzen“. Die Formulierung lenkt den Blick zunächst auf sehr konkrete Grenzen, etwa die zwischen zwei Grundstücken. Bei genauerem Hinsehen kann sie aber auch auf solche Grenzen angewandt werden, die nicht unmittelbar erfahrbar sind, die nur abstrakt existieren, die keine materielle Repräsentation besitzen.

Grenzverschiebung nach Westen

Die Grenze in uns

Basal ist sicher die universale und doch für jeden Menschen individuell wahrgenommene Grenze der eigenen Person. Jeder erlebt sich selbst als eben das: sich selbst. Im Duktus des Deutschen Idealismus gesprochen: Ohne den anderen, von dem ich mich ab-grenze, kann ich mich selbst nicht denken. Grenzen sind intrinsischer Teil unserer Identität.

Dass es sich hierbei nicht doch wieder um eine konkrete Grenze handelt (man könnte etwa den eigenen Körper als Grenze zur restlichen Welt definieren), zeigt die uns eigene Erfahrung, dass wir uns über unseren Körper hinaus als Individuen verstehen. Wir haben uns eigene Gefühle, uns eigene Gedanken und Wünsche. Menschsein heißt also begrenzt sein. Und das nicht nur hinsichtlich der interindividuellen Unterscheidung. Wir erleben uns selbst als fehlbare und endliche Wesen mit begrenzten geistigen wie körperlichen Ressourcen, Grenzen gehören zur conditio humana. Und genauso wesentlich wie die Grenze selbst ist uns auch das Bedürfnis, Grenzen zu ziehen und sie zu überschreiten.

Die Grenze um uns

Der Grad der Ausprägung, beziehungsweise der Umgang mit Grenzen variiert sicherlich von Individuum zu Individuum. Plakativ können hier Klischees über unterschiedliche Nationalitäten herangezogen werden. Westliche Länder legen etwa sehr großen Wert auf einen gewissen Mindestabstand, den ihre Mitmenschen wahren sollten. Wird dieser „private Bereich“ nicht gewährleistet, etwa in einer vollgestopften U-Bahn, tritt Unbehagen auf. In östlichen Kulturkreisen wird diesem Abstand wesentlich weniger Bedeutung zugemessen. Noch ein Beispiel: Die Deutschen und ihr Gartenzaun. Wer seinen Rasen mit der Nagelschere stutzt, der schützt ihn auch mit aller Kraft vor unerwünschten Eindringlingen. Wer hingegen in den USA durch einen Vorstadtort spaziert, wird vermutlich lange suchen müssen, um vergleichbare Hecken, Bretterverschläge oder gar Mauern zu finden.

Der Umgang mit Grenzen kann aber auch eine Frage des Charakters sein. Weichen wir zurück, wenn wir etwa an unsere körperlichen Grenzen kommen, wie man es zum Beispiel beim Ausdauersport erleben kann? Oder wachsen wir über uns hinaus? Wie wichtig ist es uns Grenzen zu wahren und wann scheint es uns wichtiger, sie zu überschreiten?

Über die Grenze hinaus

Für die letzte Frage ist auch die Beobachtung wichtig, dass Grenzen auch verschoben werden können. Durch gezieltes Training kann ich meine körperlichen und geistigen Grenzen verschieben, die Besiedelung der USA verschob Grenze zwischen industrialisierter Zivilisation und unberührter Wildnis, die fortschreitende Entwicklung in Wissenschaft, Technik und Globalisierung eröffnet neue Handlungsspielräume – immer wieder auch über die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft hinaus. Gleichzeitig neigen wir als Menschen mit einem Bedürfnis nach Sicherheit, nach Regulierung und somit eben auch nach Grenzen dazu, diese Handlungsspielräume zu beschränken, durch Normen, Gesetze, Vorschriften, Verbote. Es liegt in unserer Natur, jedem „könnte“ ein „sollte“ entgegenzustellen.

Das mag engstirnig, vielleicht sogar fortschrittsfeindlich oder feige wirken und natürlich gibt es Grenzen und Reglementierungen, die eher im Weg stehen (man denke nur an die berüchtigte deutsche Bürokratie). Tatsächlich sind Grenzen aber nicht immer gleichzusetzen mit Freiheitsberaubung. Peter Bieri schreibt in seiner philosophischen Abhandlung „Das Handwerk der Freiheit“ ausführlich darüber, dass Freiheit ohne Grenzen nicht denkbar ist, denn gerade die Fähigkeit, eine Entscheidung zu treffen, mache die Freiheit aus. Entscheidungen machen aber nur dann Sinn, wenn ich zwei Möglichkeiten voneinander ab-grenzen kann.

Grenzen bedeuten somit nicht per se eine negativ zu wertende Einschränkung, sie sind viel mehr eine wesentliche Grundlage für tatsächliche Freiheit. Wer einen Schritt weitergehen will, der gelangt schließlich zu der Feststellung, dass Grenzen in sich ohnehin wesentlich mehr sind als eine Schlusslinie auf einer Strecke von Möglichkeiten. Denn wie in der Definition zu Anfang festgehalten, verläuft eine Grenze stets „zwischen Gebieten“. Im Ziehen der Grenze ist das „darüber hinaus“ also immer schon enthalten.