VON CLEMENS POKORNY | 07.07.2016 10:23

Ziviler Ungehorsam: Gesetzesübertretung aus Gewissensgründen

Auch in den reichen deutschsprachigen Ländern liegt politisch einiges im Argen. Kaum jemand traut sich, dagegen aufzubegehren. Dabei gibt es neben legalem politischen Engagement z.B. in Form von Demonstrationen auch einen illegalen, aber von vielen als legitim angesehenen Weg des politischen Protests: den zivilen Ungehorsam, also die Missachtung von Gesetzen aufgrund von höheren Prinzipien als dem kodifizierten Recht.

Qui tacet, consentire videtur – Wer schweigt, scheint zuzustimmen. Das Diktum des mittelalterlichen Papstes Bonifatius VIII. passt derzeit ganz gut auf den politischen Mainstream in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Zwar geht es den meisten hier finanziell einigermaßen gut, gerade im Vergleich zu unseren Nachbarn v.a. im Süden und Osten Europas. Armut in Deutschland ist Reichtum gegenüber der Armut im überwiegenden Rest der Welt. Doch der Mensch lebt nicht vom Brot allein, und auch auf hohem Niveau gibt es leider viele Anlässe zur Klage für uns alle: Von der guten wirtschaftlichen Lage profitieren vor allem die bereits Reichen, die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer mehr. Schon längst bringt großes Kapital mehr Erträge als ehrliche Erwerbsarbeit. Die Rüstungsexporte erreichen einen neuen Rekordwert. Auch pazifistisch eingestellte Menschen müssen mit ihren Steuern den Krieg finanzieren. Die von niemandem gewählten EU-Bürokraten haben mit CETA und TTIP Knebelverträge ausgearbeitet, die Investoren und Konzerninteressen Vorrang vor Bürgerrechten und nationalen Umwelt- und Verbraucherschutzgesetzen geben. Immer noch zahlen wir den Kirchen als Kompensation für die Säkularisation vor über 200 Jahren zweistellige Millionenbeträge als Ausgleich, obwohl schon in der Weimarer Verfassung deren Beendigung gefordert wurde. Die intransparenten und arrogant auftretenden Geheimdienste spionieren uns schamlos aus. Einmal freigesprochene Verbrecher können (mit Ausnahme von Österreich) nie wieder vor Gericht gestellt werden, auch wenn neue Indizien ihre Schuld beweisen.

Diese Liste der Schande ließe sich noch lange fortsetzen. Kaum jemand tut etwas dafür, sie zu verkürzen. Dabei gibt es gute Vorbilder, die zeigen, wie man sogar als Einzelperson Sand ins Getriebe der herrschenden Verhältnisse streuen kann. Henry David Thoreau zum Beispiel: Der US-amerikanische Schriftsteller und Philosoph (1817-1862) schied aus dem Schuldienst aus, weil er seine Zöglinge nicht körperlich züchtigen wollte, wie es damals als unerlässlich angesehen wurde. Später hörte er auf, Steuern zu zahlen, und wurde deshalb inhaftiert: Die Sklaverei und den Krieg gegen Mexiko wollte er nicht mitfinanzieren.

Aus Gewissensgründen hat Thoreau also Gesetze übertreten, uneigennützig oder doch zumindest zum Wohle einer großen Zahl seiner Mitmenschen, und dafür Bestrafung in Kauf genommen. Damit liefert er ein Paradebeispiel zivilen Ungehorsams. Wer wie Thoreau handelt, will nicht die bestehende Gesellschaftsordnung als ganze umstürzen, sondern auf erhebliche Missstände innerhalb derselben aufmerksam machen, und verzichtet auf körperliche Gewalt gegen Menschen. In diesem Sinne bekämpfte Mohandas Karamchand „Mahatma“ Gandhi gewaltfrei die Rassentrennung in Indien und setzte sich für die Unabhängigkeit seiner Heimat Indien von den britischen Kolonialherren ein. Beide, Thoreau und Gandhi, agierten in einem Maße mutig und altruistisch, wie es kaum von einer Mehrheit der Menschen erwartet werden kann.

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Wo aber endet moralisches Heldentum und wann beginnt die Pflicht zum Widerstand gegen staatliche oder staatlich legitimierte Ungerechtigkeit? Deutschland hat sich dieser Frage angesichts seiner jüngeren Geschichte juristisch angenommen. Nach dem Nationalsozialismus sollte niemand mehr die freiheitlich-demokratische Grundordnung so leicht beseitigen können wie die Nazis in dem halben Jahr nach ihrem Wahlsieg vom 30. Januar 1933. Gemäß Artikel 20, Satz 4 des Grundgesetzes hat daher jeder das Recht auf Widerstand gegen jeden, der diese Grundordnung, kodifiziert in den ersten drei Artikeln des GG, zu beseitigen versucht. Eine juristische Pflicht zum Widerstand lässt sich daraus nicht ableiten, sehr wohl aber eine moralische.

Die Gefahr der Zerstörung unserer Grundordnung droht uns derzeit zum Glück nicht. Wer daher einen der oben genannten Missstände bekämpfen will, kann dies auf legalem Wege tun (Wahlen, Engagement in verfassungsgemäß agierenden politischen Gruppierungen) – oder auf zivilen Ungehorsam setzen. In Deutschland fallen neben der eher selten Steuerverweigerung aus Gewissensgründen vor allem die Sitzblockaden, etwa gegen Castortransporte, unter diesen Begriff. Zahlreiche historische Beispiele zeigen, dass viele Siege der Humanität nur durch zivilen Ungehorsam errungen wurden: Erst der von Rosa Parks initiierte, über ein Jahr dauernde Busboykott von Montgomery beendete die Rassentrennung in Schulen und öffentlichen Verkehrsmitteln der USA und verhalf der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen zum Durchbruch. Und schon im Jahr 494 vor Beginn unserer Zeitrechnung erzwang das einfache römische Volk durch seine temporäre Auswanderung aus Rom (secessio plebis) mehr politische Teilhabe im von wenigen Adelsfamilien regierten Staat. Ein Vorbild für das Deutschland unserer Zeit? Der letzten SINUS-Jugendstudie zufolge sind die meisten deutschen Jugendlichen heute angepasst und haben primär ihre Karriere im Blick. Gleichgültig, ob das nun mit Feigheit oder Angst vor dem sozialen Abstieg zu erklären ist: In jedem Fall stehen uns wohl eher zivil gehorsame Jahrzehnte bevor.

Bild: "Castor 2010: Landmaschinen-Schau auf der Kundgebung" von GuenterHH via flickr.com. Von UNI.DE zugeschnitten und mit ©-Hinweis versehen.
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