VON MAXIMILIAN REICHLIN | 22.07.2016 07:59

Rigaer 94 – Die Geschichte der Hausbesetzungen in Berlin

Durch die anhaltende Diskussion um die umstrittenen Wohnräume in der Berliner Rigaerstraße 94 kommt es in Politik und Medien erstmals wieder zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema „Hausbesetzungen“. Da die Räumung des Hauses im Samariterkiez ins Haus steht, finden vermehrt Protestaktionen statt. Zuletzt waren bei einer Demonstration am 9. Juli an die 120 Polizisten verletzt worden, nun ist die Zukunft dieser „letzten autonomen Bastion“ unsicher. UNI.DE berichtet über den Disput und lädt ein auf eine Reise durch die Geschichte der Hausbesetzungen in der Hauptstadt.

In Berlin herrscht noch immer ein erbitterter Kampf um das teilbesetzte Mietshaus Rigaerstraße 94, der am 9. Juli mit einer Demonstration sein Ende fand. An die 4.000 Menschen gingen dabei gegen die geplante (und so gut wie durchgeführte) Räumung des Hauses auf die Straße. Vereinzelt kam es zur Eskalation zwischen den protestierenden Autonomen und der Polizei. Offizielle Zahlen von Verletzten gibt es nicht, lediglich die Polizei spricht von rund 120 Verletzten in den eigenen Reihen. In der Tagespresse ist von „unprovozierter linker Gewalt“ die Rede, die Berlin „schockt“. Augenzeugenberichte der Anwohnerinnen und Anwohner zeichnen ein anderes Bild: Die Polizei habe die Demonstranten eingekesselt, Druck aufgebaut, viele der Autonomen seien geschubst, geschlagen oder gar getreten worden.

Schon oft ist die Rigaerstraße im sogenannten Samariterkiez zum Schauplatz von Ausschreitungen und Randalen geworden. Bereits seit 1990 ist es teilweise besetzt und wird immer noch als Wohnraum und als Veranstaltungsort für kulturelle Projekte oder linkspolitische Aktionen genutzt. Viele ehemalige Besetzerinnen und Besetzer haben mittlerweile ordentliche Verträge. Dennoch steht die Räumung bereits seit einiger Zeit im Raum. Bereits im vergangenen Monat war ein Bautrupp unter Polizeischutz in die Rigaerstraße gekommen, und hatten mit Umbaumaßnahmen begonnen, altes Mobiliar entfernt. Nach Aussagen der Berliner Polizei war diese vom Eigentümer der Wohnung gebeten worden, die Räumung sowie die Arbeiten im teilbesetzten Haus zu überwachen. Die Räumung wurde mittlerweile allerdings für rechtswidrig erklärt, die Vertriebenen sind – vorerst – in das Haus zurückgekehrt.

Anarchie. Alles kann, nichts muss

Rigaer 94 – Die letzte Bastion der Autonomen

Kein Einzelfall, aber ein besonderer, weil vermutlich der letzte. Hausbesetzungen sind rar geworden in Berlin in den vergangenen Jahrzehnten. „Juristisch gesehen gibt es heute überhaupt keine besetzten Häuser mehr“, weiß Andrej Holm, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Humboldt-Universität. „Die Bewohner der etwa hundert Häuser, die in der Karte heute verzeichnet sind, haben alle Mietverträge.“ Er bezieht sich damit auf die interaktive und illustrierte Karte unter dem Titel „Berlin besetzt“, die als autonome Kunstaktion im Internet kursiert und die Geschichte der Hausbesetzungen nachzeichnet. Die Häuser, die dort auch heute noch eingezeichnet sind, sind diejenigen, die einmal besetzt waren und immer noch stehen.

Selbst von diesen jedoch hat kaum eines in den vergangenen Jahren für einen solchen politischen Wirbel gesorgt, wie die Rigaer 94. Zuletzt war das die Liebigstraße 14, die 2011 von der Stadt an den Höchstbietenden verkauft und anschließend geräumt worden war. Seitdem gilt das bunte Haus in der Rigaerstraße als „letzte Bastion“ der Hausbesetzungsszene und als Rückzugsort für autonome Linke.

Geschichte der Hausbesetzungen, Teil I: Die Subkulturen der 80er

Die Rigaer 94 ist damit einer der letzten Ausläufer einer Szene, die ebenso zu Berlin gehört, wie Kudamm und Kotti. Hausbesetzungen gibt es in Deutschland bereits seit dem Ende der 70er Jahre und Anfang der 80er Jahre, in Berlin ist ihre Geschichte am buntesten. Unbezahlbare Mieten, Wohnungsmangel, der Wunsch nach freier Entfaltung oder auch politisch-revolutionäres Kalkül – all das führte während der ersten großen Besetzungswelle ab 1980 dazu, dass vor allem Arbeitslose und Studierende leerstehende Wohnungen besetzten. „Wohnraum für alle!“, lautet seit damals die Parole.

Die besetzten Häuser wurden schnell zu einem Auffangbecken für die Randgruppen der Gesellschaft. Autonome, Ökos, Homosexuelle, AKW-Gegner und Punks wurden angeschwemmt und bildeten in ihrem kostenlosen Wohnraum florierende Subkulturen – einige ganz offen, mit Transparenten, Flugblättern, Demonstrationen – andere lieber im Stillen, da sie die baldige Räumung fürchteten.

Geschichte der Hausbesetzungen, Teil II: Das Machtvakuum nach dem Mauerfall

Zu einer zweiten Welle kam es dann in den 90er Jahren, genauer: Zur Zeit der Wende. Im Übergang zwischen DDR- und BRD-Regierung herrschte in Berlin ein Machtvakuum, das Menschen aus Ost und West die Möglichkeit bot, leerstehende Räume kurzerhand zu übernehmen. Mit überwältigendem Erfolg: Letztendlich musste die neue Regierung in Berlin dem Druck der Besetzerszene nachgeben und einen Großteil der Häuser legalisieren. Aus Besetzenden wurden Besitzende.

Hausbesetzungen heute: Protest gegen steigende Mieten und Illegalisierung von Geflüchteten

Nach einer letzten großen Räumungswelle in der Mitte der 90er-Jahre kam es selbst in Berlin, der inoffiziellen Hochburg der Hausbesetzungen, nur noch vereinzelt zur Übernahme leerstehender Häuser. Wenn doch, werden diese meist bereits innerhalb weniger Stunden nach Bekanntwerden der Besetzung geräumt – die sogenannte „Berliner Linie“. Mittlerweile sind Hausbesetzungen kein Kampf um kostenlosen Wohnraum mehr, sondern in erster Linie Protestaktionen – gegen steigende Mietpreise oder die Illegalisierung von Migrantinnen und Migranten, die für ihre Grundrechte kämpfen wollen.