VON CLEMENS POKORNY | 25.07.2016 08:25

Henry David Thoreau: Vordenker des zivilen Ungehorsams

Ungerechte Gesetze und unfähige Politiker plagten schon kritische Geister in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA. Einer von ihnen, der Schriftsteller Henry David Thoreau, kam in seinen Überlegungen über den Staat zu radikalen Schlussfolgerungen: Die Regierung solle die Bürger so weit wie möglich in Ruhe lassen, und immer, wenn ihre Politik mit deren Gewissen in Konflikt komme, hätten die Menschen die Pflicht zu zivilem Ungehorsam.

„Diejenigen, die zwar Einstellung und Maßnahmen der Regierung missbilligen, ihr aber loyale Gefolgschaft gewähren, sind zweifellos ihre gewissenhaftesten Unterstützer – und sie bilden die ernsthaftesten Hindernisse für Reformen.“ Dieser Satz Henry David Thoreaus (1817-1862) bringt die Kritik seines Verfassers an seinem Staat, den USA, auf den Punkt. Thoreau schrieb ihn in einer Zeit der Sklavenhaltung und des imperialistischen Expansionskrieges der USA gegen Mexiko. Weil er sich weigerte, diese Politik mit seinen Steuergeldern zu finanzieren, landete er hinter Gittern. Wie kam es zu diesem Ungehorsam dem Staat gegenüber?

„Was ich will, ist: Dem Staat die Gefolgschaft verweigern, mich abseits und entschieden außerhalb seiner Reichweite stellen.“

Als Sohn eines Bleistiftfabrikanten im neuenglischen Massachusetts geboren, war Thoreau die Neigung zum zivilen Ungehorsam nicht in die Wiege gelegt. Nach seinem Studium an der renommierten Havard-Universität in Rhetorik, Klassischer Philologie, Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften fand er ein Auskommen als Lehrer. Wenige Wochen lang arbeitete er an der öffentlichen Schule seiner Heimatstadt Concord, doch dann schied er freiwillig aus dem Schuldienst aus, weil er die von ihm geforderte körperliche Züchtigung seiner Schützlinge ablehnte. Daraufhin gründete er zusammen mit seinem Bruder John eine private Grammar School (≈ Gymnasium), doch nach vier Jahren starb John und die Schule wurde geschlossen. In seiner Zeit als Lehrkraft lernte Thoreau den Pastor und Schriftsteller Ralph Waldo Emerson kennen, dessen individualistische Ansichten ihn nachhaltig prägten. Zwei Jahre lang lebte Thoreau abgeschieden in einer selbst gebauten Blockhütte auf einem Grundstück Emersons am Walden-See. Über sein einfaches Leben dort und seine Gedanken über Wirtschaft und Gesellschaft verfasste er sein viel rezipiertes Buch „Walden oder Leben in den Wäldern“.

„Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regiert.“

Zurück in der Zivilisation wurde Thoreau u.a. in der väterlichen Fabrik tätig und legte sich erstmals mit dem Staat an: Er verweigerte in einem Akt zivilen Ungehorsams 1846 die Zahlung einer Steuer, weil er keinen Beitrag zum Mexikanisch-Amerikanischen Krieg leisten wollte, den Präsident James Knox Polk vom Zaun gebrochen hatte. Daraufhin wurde er inhaftiert und schon am nächsten Tag wieder freigelassen, weil ein Verwandter seine Steuerschuld für ihn bezahlt hatte. Seine Erlebnisse in der kurzen Haft sowie seine Ablehnung der Sklaverei und des aktuellen Krieges geronnen später zu dem Aufsatz: „Civil Disobedience“, zu deutsch: „Ziviler Ungehorsam“, betitelt aber mit „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“. Thoreaus Ansicht nach zögen die US-amerikanischen Soldaten selbst widerwillig gegen Mexiko. Der Krieg geschehe im Interesse weniger, die die Regierung als ihr Werkzeug benutzten: „Das Volk hätte dieser Maßnahme von vornherein nicht zugestimmt.“ Außerdem kritisierte er, dass „ein Sechstel der Bevölkerung einer Nation, die sich selbst zu einer Zuflucht der Freiheit gemacht hat, versklavt ist“. Die Ursachen der verfehlten Politik sah Thoreau einerseits in der schlechten Regierung, die Präsident Polk willfährig gehorche und daher „nicht einmal die Lebenskraft und Energie eines einzigen Mannes“ besitze. Auch aufgrund seiner liberalistischen Gesinnung, die staatliche Maßnahmen aus ökonomischer Perspektive auf ein Minimum beschränkt sehen wollte, kam Thoreau zu seiner starken These: „Die beste Regierung ist die, welche gar nicht regiert.“ An anderer Stelle relativierte er diese Fundamentalkritik allerdings: Er wünsche sich „von jetzt an eine bessere Regierung“.

„Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen, und das ist, jederzeit das zu tun, was mir recht erscheint.“

Akzeptanz vs. Toleranz

Ein noch größeres Übel als eine schwache Regierung aber erkannte Thoreau in denjenigen Bürgern, die den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg oder die Sklaverei zwar kritisierten, gegen die großen Fehler der Regierung aber nicht aktiv würden. Die Auswege, die der Staat biete, dauerten Thoreau zu lange. Daraus erwuchs seine Befürwortung zivilen Ungehorsams einerseits und seine sehr skeptische Haltung der Demokratie und ihres Mehrheitsprinzips gegenüber andererseits: „Eine Regierung, in der die Mehrheit in jedem Fall den Ausschlag gibt, kann nicht auf Gerechtigkeit gegründet sein.“ Statt einer schlechten Regierung, die z.T. schlechte Gesetze anwende, solle jeder einzelne Mensch in möglichst vielen Fragen selbst entscheiden und zwar nur nach seinem Gewissen. Daher forderte Thoreau Respekt vor der Gerechtigkeit statt vor dem Gesetz. Die Demokratie in den USA seiner Zeit war für ihn nicht das Ende der Geschichte: „Ist die Demokratie, wie wir sie kennen, wirklich die letzte mögliche Verbesserung im Regieren? Ist es nicht möglich, noch einen Schritt weiter zu gehen bei der Anerkennung und Kodifizierung der Menschenrechte?“

„Jeder, der mehr im Recht ist als seine Nachbarn, [bildet] schon eine Mehrheit von einer Stimme.“

Viel von Thoreaus Gesellschaftskritik ließe sich auf unsere heutigen Verhältnisse anwenden. Vielleicht täte es dem sprichwörtlichen deutschen Michel gut, wenn er – wie Thoreau – einmal inhaftiert würde und so die Ungerechtigkeit selbst erleben könnte, um sie danach umso überzeugender und wirkungsvoller zu bekämpfen – auch mit zivilem Ungehorsam. Schwierig bleibt aber die Frage, wo dem von Thoreau propagierten Individualismus Grenzen zu setzen sind. Wie kann ein einzelner Mensch sicher sein, bessere politische Ideen zu vertreten als die Mehrheit? Wie kann er das Recht darauf haben, sich Gesetzen zu widersetzen, die demokratisch beschlossen wurden? Und soll er gegen die von ihm erkannten Übel alleine vorgehen, wie Thoreau es tat, oder sich mit anderen zusammenschließen? Bei aller Skepsis, die gegenüber Thoreaus unzusammenhängenden Thesen angebracht ist, lässt sich doch eines nicht leugnen: Mit seiner Kritik an Bürgern, die schlechte Politiker gewähren lassen und ein suboptimales politisches System dulden, und seinen Aufrufen zum zivilen Ungehorsam beeinflusste er Sozialrevolutionäre wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King, auf die sich heutige Rebellen gegen die Ungerechtigkeit ihrerseits berufen. Insofern bleibt Henry David Thoreau aktuell.

Bild: "Paintingsbyrachellepavlova6" von Rachellepavlova (Own work) via Wikimedia Commons. Von UNI.DE zugeschnitten und mit ©-Hinweis versehen.
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