VON CLEMENS POKORNY | 29.07.2016 11:25

Traditionen, Konventionen und Rituale: Warum Ungehorsam gegenüber dem Überkommenen manchmal unsinnig ist

Viele Traditionen und Rituale scheinen nicht mehr in unsere Zeit zu passen: Sie engen uns unnötig ein und haben oft ihren ursprünglichen Sinn längst verloren. Einige solcher Konventionen sind daher vom Aussterben bedroht, nicht durch zivilen Ungehorsam, sondern durch schleichenden Rückgang oder aufgrund zunehmender Verdrängung durch Alternativen. Doch grundsätzlich sind ungeschriebene Regeln für unser Zusammenleben wichtig.


Die vielen individuellen Freiheiten, die wir heute in Deutschland genießen, sind bekanntlich vor allem die Errungenschaften fortschrittlich denkender, zum Teil zivil ungehorsamer, früherer Generationen. Wie ein Blick in undemokratisch regierte Länder wie China oder in islamisch dominierte Länder zeigt, leben wir im Vergleich zu Milliarden anderer Menschen unserer Zeit in dieser Hinsicht privilegiert. Doch nicht alle können in jeder Situation mit diesem Privileg verantwortungsvoll umgehen: Gaffer behindern Rettungskräfte und werden auch noch frech, wenn diese sie zurechtweisen. Steuervorteile und -schlupflöcher werden von Superreichen zweckentfremdet. Eltern kommen mit haltlosen Attesten und windigen Advokaten, um ihren überforderten Sprösslingen zum gewünschten Schulabschluss zu verhelfen. Vor lauter Freiheit vergessen wir manchmal, dass eine Gesellschaft Regeln braucht, um zu funktionieren – und zwar nicht nur solche in Gesetzesform.

Welche das sind, darf in einer pluralistischen Demokratie natürlich immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden. Ziviler Ungehorsam schreitet gleich zur Verweigerung der Regelbefolgung weiter (was eine parallele Diskussion nicht ausschließt). Er hat Erfolge gezeitigt, wie im UNI.DE-Artikel über den zivilen Ungehorsam nachzulesen ist, aber die meisten Änderungen und Abschaffungen von Gesetzen und nicht-kodifizierten Normen findet still und langsam statt.

Man kann das vor allem am Wandel von Traditionen und Ritualen beobachten. Weitergegebene Handlungsmuster und Überzeugungen (Traditionen) kennen wir vor allem aus der katholischen Kirche. Sie lebt von der Tradierung überkommener Konventionen, z.B. was die Zelebrierung des Gottesdienstes angeht. Traditionen bestimmen aber auch das Leben vieler Vereine und sogar mancher Familien. Kurzum: Sie regeln das Zusammensein von kleineren und vor allem größeren sozialen Gruppen in Bereichen, die von Gesetzen nicht abgedeckt werden und auch nicht abgedeckt werden müssen. Sie wurden daher freiwillig etabliert, allerdings müssen sich auch neue Gruppenmitglieder meist ohne Diskussion an sie halten. Ungehorsam würde meist zur Isolation in oder zum Ausschluss aus der jeweiligen Gruppe führen.

Was ist die deutsche Leitkultur, und wenn ja, wie viele?

Auch Rituale sind sozusagen ungeschriebene Gesetze, aber sie finden auch außerhalb fester Gruppen statt. Wie bei den Traditionen herrscht ein sozialer Druck, sich Ritualen zu unterwerfen: Wem von einem Gegenüber die Hand entgegengestreckt wird, der ist aufgefordert, sie zu ergreifen; wer wie ein bunter Hund zu einer Beerdigung kommt und dann noch Witze reißt, dem wird, wenigstens in Deutschland, meistens signalisiert, dass sein Verhalten deplatziert ist; u.s.w. Ungehorsam hat also auch hier in der Regel negative Folgen.

Das gilt schließlich auch für alle anderen sozialen Konventionen: Im Deutschen Bundestag wird von Männern erwartet, im Anzug zu erscheinen und wenigstens als Schriftführer Krawatte zu tragen. Auch in vielen Berufen herrschen Kleiderordnungen, die keine hygienischen oder sonstigen unmittelbar zweckdienlichen Gründe haben (sondern z.B. Seriosität signalisieren sollen). Fremde oder hierarchisch Höherstehende werden nicht auf Anhieb geduzt, wenn man es sich mit ihnen nicht verscherzen will.

Ungehorsam solchen Regeln gegenüber kann erst dann erfolgreich sein, wenn eine größere Zahl von Menschen sich ihnen aus offensichtlich guten Gründen widersetzen. Das „Du“, das in den USA und Skandinavien zusammen mit dem Vornamen die alte Höflichkeitsform schon lange verdrängt hat, breitet sich auch bei uns immer mehr aus. Was spräche auch dagegen? Eine Ausnahme bilden neben den Behörden und noch immer vielen Betrieben die Schulen: Lehrkräfte werden nach wie vor gesiezt. In Nordeuropa schon seit längerem nicht mehr – trotzdem respektieren die Schüler sie genau wie zuvor. Konservativ bleibt Deutschland auch bei der erwähnten Kleidung der Parlamentarier: Die Grünen haben ihre Wollpullis und Turnschuhe bekanntlich längst abgelegt; die Partei Die Linke hat gar nicht erst damit angefangen, sich dieser schwer zu begründenden parlamentarischen Benimmregel zu widersetzen – Ausnahmen bestätigen die Regel.

Ein solcher Ungehorsam ist in vielen Fällen auch nicht sinnvoll. Kinder etwa lieben viele (angenehme) Rituale, z.B. Singen, Vorlesen oder das morgendliche Öffnen des Adventskalenders in der Vorweihnachtszeit. Und sie brauchen sie auch, genauso wie psychisch Labile oder Menschen in Lebenskrisen. Psychologen wissen: Rituale geben Halt und stehen für Verlässlichkeit. Ohne solche Konventionen drohen wir in einer immer unübersichtlicheren und sich zunehmend schneller verändernden Welt den Überblick zu verlieren. Aber wir haben heute auch so viel Freiheit wie nie zuvor, zu entscheiden, gegenüber welchen als überflüssig empfundenen Regeln, Traditionen und Ritualen wir keinen Gehorsam mehr üben wollen.