VON SUSANNE BREM | 11.07.2016 13:34

Protest auf Rädern: friedliches Aufrütteln der Critical Mass

Eine riesige Kolonne aus hunderten, tausenden Radfahrenden zugleich auf den Straßen – was man sonst von der Tour de France kennt, zeigt sich in den letzten Jahren vermehrt unter Ottonormalradlern in verschiedenen Städten als Phänomen; mit dem Unterschied, dass hier kein Wettkampf ausgetragen wird, sondern die Fahrradmasse am regulären Alltagsverkehr teilnimmt. Dieses Kuriosum hat seine Bewandtnis: politische, soziale Beweggründe stecken meist dahinter. Eine Art der Demonstration also, allerdings vorgeblich unorganisiert und inoffiziell. Woher kommt diese Form des Widerstands?

Das Phänomen der Critical Mass hat sich seit seinem ersten Auftreten in San Franciscos frühen 90er Jahren nur mehr oder weniger einen Namen gemacht. Der Begriff meint eine Form der direkten Aktion, die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Thema oder einen Missstand lenken möchte. Eine Demonstration also? Nicht ganz, da diese offiziell angemeldet werden müssen und einen konkreten Veranstalter an ihrer Spitze stehen haben. Beides ist bei einer Critical Mass nicht der Fall. Es handelt sich um lose Zusammentreffen Gleichgesinnter, die sich scheinbar zufällig zur selben Uhrzeit am selben Ort begegnen und z. B. eine ruhige Fahrradtour durch die Stadt unternehmen. Da es keine richtige Veranstaltung ist und es keine offizielle Person der Organisation oder Verantwortung gibt, sondern nur unverbindlich ein Termin mitgeteilt wird, um sich einem gemeinsamen Interesse zu widmen, grenzt sich die Critical Mass also in mehreren Belangen von einer Demo ab. Sie funktioniert wie ein Flashmob als gewaltfreie Aktion.

Widerstand mit Maß und Masse

Dem Selbstverständnis der Critical Mass nach ist es den Teilnehmenden wichtig, gänzlich friedlich und regelkonform aufzutreten; die StVO wird stets eingehalten, der Verkehr soll weder blockiert noch gehemmt werden, niemand soll unfair eingeschränkt oder gar genötigt werden. Durch die schiere Masse an Teilnehmenden will ein Critical Mass-„Happening“ aus Radfahrenden z. B. darauf hinweisen, wie viele motorisierte Fahrzeuge unterwegs sind und den Verkehr dominieren, wie sehr dieser auf PKW und LKW ausgerichtet ist und dass Radfans ob ihrer Anzahl und ihres geringeren Fahrttempos dennoch eine wichtige Form des Individualverkehrs ausmachen. Obwohl der Begriff meist synonym für derartige Gruppierungen benutzt wird, die mit dem Fahrrad unterwegs sind, umfasst er generell jede Art unmotorisierten Vehikels; oder solche ganz ohne fahrbaren Untersatz. Denkbar sind also auch Critical Mass-Kolonnen aus Menschen, die inlineskaten oder joggen bis hin zu (theoretisch) Einradfahrenden und Menschen auf Hüpfbällen – sofern sie sich an Regel und Gesetz halten.

Radfahren in der Stadt

Der Wunsch nach Veränderung und Besserung

Warum sich so viele Menschen auf diese Art zusammenschließen, ist je nach einzelner Critical Mass unterschiedlich. Allerdings steckt in der Regel die Intention dahinter, die Bevölkerung und/oder die Politik auf etwas aufmerksam zu machen, das Aufmerksamkeit benötigt. Sie möchten so Denkprozesse anregen und sich für positive Veränderungen einsetzen. Ein bekanntes Beispiel ist der Critical Mass-Zug aus Radfahrenden in New York 2004: Mehrere Tausende protestierten mit ihrem Umzug gegen den Parteitag der Republikanischen Partei und gegen George W. Bush im speziellen. Diese Bewegung betrifft also nicht nur kleinere lokale Belange, sondern bezieht sich auch auf weitreichende politische Themen. Die bislang größte Kolonne weltweit fand sich 2013 in Budapest zusammen, satte 100.000 Menschen trafen sich hier. Seither finden Critical Mass-Züge in den meisten größeren Städten etwa monatlich statt, viele zelebrieren ihren Umzug mit besonderen, extra gebauten Tallbikes und Freakbikes, die Musik abspielen beim Fahren oder durch ihre Form und Farbe besonders herausstechen. Die einen haben ihren Spaß an dieser simplen und gänzlich friedlichen Form des Widerstands, die anderen regen sich über die Fahrradmasse auf, die nächsten blicken nur verwundert auf die vorbeiziehenden Räder – in jedem Fall gewinnen die Teilnehmenden einen Teil dessen, was sie fordern: nämlich Aufmerksamkeit.

Bild: "Critical Mass Berlin" von b3k via flickr.com. Von UNI.DE zugeschnitten und mit ©-Hinweis versehen.
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