VON JULIA ZETZ | 18.05.2012 15:04

Wenn die Geier kreisen

Jeder Mensch übt gerne Macht aus, egal ob über andere oder über sich selbst. Aber wie weit gehen wir dabei? Wann überschreitet man die Grenze des alltäglichen Machtspielchens untereinander?

Anna ist 24, sie studiert Germanistik im zweiten Semester. Anna ist ein lebendiges junges Mädchen. Sie ist gern unter Menschen, hat viele Freunde und viele Hobbies. Zweimal in der Woche trifft sie sich mit ihrer besten Freundin und geht tanzen. Mit ihren Kommilitoninnen trifft sie sich einmal im Monat zum Mädelsabend. Und auch sonst verbringt sie gern Zeit mit anderen Menschen.

Anna hat auch einen Freund. Er ist 34 und Unternehmer. Lange sind sie noch nicht zusammen, gerade einmal ein gutes Jahr. Kennengelernt haben sie sich in der Arbeit. Anna arbeitet neben dem Studium als Bedienung in einem kleinen Lokal. Er war dort Stammgast. Schnell waren sich die beiden sympathisch. Sie unternahmen viel, fuhren Rad, gingen ins Kino und trafen sich mit Freunden. Allen schien perfekt.

Mit der Zeit kommt der Alltag

Vor ein paar Monaten sind die beiden zusammen gezogen. Euphorisch wie Anna ist, überhört sie die gut gemeinten Ratschläge ihrer Freunde. „Anna, es ist noch zu früh!“, „Bist Du dir wirklich sicher?“, „Hast Du dir das gut überlegt?“. Alles Quatsch! Anna liebt ihren Freund und er liebt sie.

Endlich war sie eingezogen. Ihre Sachen waren in seiner Wohnung, ihr altes Leben ließ sie ein Stück weit hinter sich. Ein kleiner Neuanfang sollte es sein. Ein Neuanfang für die Seele. Anna hat schon einmal mit einem Freund zusammen gelebt. Das ging schief, sehr bald trennte sie sich von ihm. Jetzt soll alles anders werden.

Ein paar Monate verstreichen. Da kommt der erste kleine Streit. „Du kannst nie zugeben, wenn du einen Fehler gemacht hast!“, schreit Anna ihren Freund an. „Immer schiebst Du alles auf mich!“. Ein Wort gibt das andere, die Türen fliegen, es herrscht erst Mal Funkstille. Vor ein paar Wochen hat sie das noch nicht gestört, auf einmal schon. Das mag sie nicht an ihm! Dass er immer Recht haben muss! Anna ärgert sich, sie wollte doch nur offen mit ihm reden und jetzt streiten sie sich.

Aber auch das vergeht und schon bald ist alles wieder in Ordnung. Das Glück hält nicht lang. „Nie machst Du was mit mir!“, schreit Anna ihren Freund an. „Früher haben wir viel unternommen, heute sitzen wir noch vor der Glotze!“. Und wieder fliegen die Türen. Anna fragt auch diesmal wieder, warum er denn auf einmal so böse zu ihr geworden ist. Sie wollte doch nur offen mit ihm reden!

Zu zweit und doch nie allein

„Ach Anna, mach Dir nix draus. Vielleicht ist er einfach doch nicht der Richtige?“, versucht ihre beste Freundin sie zu trösten. Er sei einfach ein bisschen zu alt für sie und das könne ja nicht gut gehen. „Willst Du wirklich so den Rest Deines Lebens verbringen?“, fragt ihre Mutter. Es sei doch keine Zukunft! Sie könne nicht mit einem Mann zusammen leben, der nicht die gleichen Interessen habe wie sie.

Sich selbst zu vertrauen

Von allen Ecken hört Anna Kritik an ihrer Beziehung und vor allem an ihrem Freund. Eine Auszeit brauche sie. Ein paar Tage ohne ihn würden sie wieder auf die richtigen Gedanken bringen.

Doch die mahnenden Worte ihrer Freunde und ihrer Familie umkreisen Anna wie Geier einen Kadaver. Ständig drohen die Gedanken-Geier auf sie herab zu stürzen. Ihre Gedanken kreisen nur noch um die Probleme in ihrer Beziehung. So kann es nicht weiter gehen........

Hätte ich doch nur....

Anna sitzt auf dem Balkon. Ganz leise hört sie ein Klavier spielen. Ihre Mitbewohnerin studiert an der Musikhochschule. Anna schaut dem Sonnenuntergang zu. Es ist Herbst geworden, die ersten Blätter fallen von den Bäumen, die Welt wird nackt. Anna fühlt sich auch so. Die Gedanken-Geier haben gewonnen. Anna ist allein. „Hätte ich doch nur...“