VON CLEMENS POKORNY | 09.04.2014 11:39

G8/G9: Gebt den Schülern ihre Jugend zurück!

Seit mehr oder weniger zehn Jahren gibt es fast bundesweit nur noch achtjährige Bildungsgänge bis zum Abitur. Doch das G8 wurde derart unbeliebt, dass immer mehr Länder zum G9 zurückkehren. Jetzt melden sich Bildungswissenschaftler zu Wort, die die Kritik am achtjährigen Gymnasium nicht nachvollziehen können – doch ihre Statistiken geben keinen Aufschluss über den gewichtigsten Grund, der dafür spricht, Schüler wieder länger lernen zu lassen.

Schon einen Tag nach der Landtagswahl 2003 brach Edmund Stoiber ein zentrales Wahlversprechen: dass in Bayern kein achtjähriges Gymnasium eingerichtet werden solle. Zu diesem Zeitpunkt hatten schon vier andere Bundesländer die Schulzeit auf acht Jahre verkürzt. Ab 2006 gab es in Deutschland mit Ausnahme von Rheinland-Pfalz keine staatlichen Gymnasien und Gesamtschulen mit G9 mehr.

Wo Abi machen wenig Arbeit kostet

Die Folgen sind bekannt: Immer mehr Schüler klagten über gestiegenen Lern- und Leistungsdruck, zu lange Schultage und damit über mangelnde Freizeit. 2010 protestierten in Bayern Hunderte Schüler gegen die Belastungen durch das G8. Mittlerweile ist die Stimmung in der gesamten westdeutschen Bevölkerung gekippt: Immer mehr Bundesländer kehren zum G9 zurück. In Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen gibt etliche Versuchsschulen, die vorläufig probehalber wieder in neun Jahren zum Abitur führen. In Hessen kann seit diesem Schuljahr jedes Gymnasium selbst entscheiden, ob es G8, G9 oder – wie es die überwältigende Mehrheit tut – beide Zweige anbieten will. In Bayern sieht ein im Juli stattfindendes Volksbegehren der Freien Wähler das gleiche Modell vor. Der vor unpopulären Maßnahmen zurückschreckende bayerische Ministerpräsident, von seinen Gegnern „Drehhofer“ geschmäht, schwört derweil seine CSU auf die nächste 180°-Wendung ein und spricht mit dem konservativen Philologenverband, der sogar zum reinen G9 zurückkehren möchte. Diesen Schritt ist Niedersachsen bereits gegangen, dessen Schüler ab 2015/16 wieder grundsätzlich in neun Jahren zur Allgemeinen Hochschulreife gelangen.

Aus der Wissenschaft kommen dagegen andere Töne: Eine stärkere gesundheitliche oder zeitliche Belastung der G8-Schüler sei nicht nachweisbar und die Noten seien auch nicht schlechter geworden. Der Journalist und selbsternannte „Pisaversteher“ Christian Füller nimmt solche Verlautbarungen zum Anlass, gegen eine angebliche konservative Revolution des Bildungsbürgertums zu wettern (in: „Der Freitag“ 14/2014, S. 6-7). Es mag richtig sein, dass sich vorwiegend Mittelschichtelter gegen das G8 engagieren. Aber tun sie das aus dem Wunsch nach materieller und kultureller Besitzstandswahrung heraus oder vielleicht einfach deshalb, weil sie generell eher als Eltern aus bildungsfernen Schichten politische Ziele für sich definieren und dafür streiten? Zugleich wird auf diese Weise die unbegründete Angst geschürt, die Wiederverlängerung der gymnasialen Schulzeit könnte Kinder aus finanziell schwachen Familien wieder vermehrt vom Gymnasium fernhalten. Das erinnert an die Behauptung des bayerischen Kultusministers Ludwig Spaenle, eine Rückkehr zum G9 bedeutete den Tod der Gymnasien auf dem Land. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Im ländlichen Niederbayern laufen dem G8 die Schüler weg, weil viele Eltern ihre Kinder lieber auf die Realschule schicken – damit ihnen ihre Jugend nicht genommen wird. Wenn Eltern wollten, dass ihr Nachwuchs möglichst schnell Geld verdient, schicken sie ihre Kinder ja auch in der Regel gar nicht erst aufs Gymnasium.

Die Devise der Politik darf daher nicht mehr sein, dass unter Verweis auf den demographischen Wandel junge Menschen immer früher in den Beruf einsteigen sollen. Ein britischer Bachelor mag zwar erst Anfang Zwanzig sein, intellektuelle und persönliche Reife hat er in diesem Alter und nach dieser Schmalspurausbildung nicht. Bildung braucht Muße. Familien mit sowohl G9- als auch G8-Kindern bestätigen, dass die G8ler zwar ebenfalls neben der Schule privaten Sport- und Musikunterricht nehmen, aber darüber hinaus keine Freizeit mehr bleibt. Sie strafen die Bildungswissenschaftler damit ebenso Lügen wie die niederbayerischen Eltern ihren Kultusminister. Wir leben nur einmal und sollten uns davor hüten, uns in diesem Leben von der Arbeitswelt vereinnahmen zu lassen wie in einem sehenswerten Kurzfilm drastisch dargestellt. Mit dem achtjährigen Gymnasium sollen wir schon frühzeitig darauf und auf den Bachelor-/Master-Unsinn eingestimmt werden. Wehret den Anfängen – weg mit dem G8!