VON JOACHIM SCHEUERER
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11.07.2013 15:26
Direkte Demokratie - Europas Zukunft?
Volksabstimmung zu Stuttgart 21, Volksbegehren gegen Studiengebühren, Volksentscheid zum Rauchverbot: das sind nur ein paar der prominenteren Beispiele direkter Demokratie, wie sie momentan Konjunktur in Deutschland zu haben scheinen. Und das obwohl, oder vielleicht auch gerade weil, wie jüngst der Glücksforscher Bruno Frey behauptete, ein allgemeines Demokratiedefizit in Europa vorherrsche. Auch die aktuellsten Umfrageergebnisse des Pew Research Centers in Washington zum Schwinden des Vertrauens der Europäer in ihre politischen Institutionen stützen die Einschätzung, dass mehr und mehr Menschen Demokratie wieder wörtlicher, ihre Verantwortung ernster und ihr Glück lieber selbst in die Hand nehmen wollen. Doch was genau beinhaltet direkte Demokratie, wieviel von ihr ist sinnvoll und welche Risiken birgt sie?
Wir sind die 99 Prozent!
Sie begann an der New Yorker Wall Street und fand schnell Anklang in zahlreichen westlichen Städten. Occupy ist eine Protestbewegung für soziale Gerechtigkeit und eine korruptionsfreie Politik
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Der Begriff direkte oder plebiszitäre Demokratie bezieht sich grundsätzlich auf ein demokratisches System, innerhalb dessen die politische Entscheidungsgewalt in Form von Abstimmungen direkt beim Volk liegt bzw. sich durch spezifische und einmalige politische Bürgerbeteiligungen durch Anträge, Begehren etc. in einer ansonsten repräsentativ organisierten Demokratie auszeichnet. Eine vollkommen direkt strukturierte Volksherrschaft existiert nicht. Auch die Schweiz, welche gemeinhin als das
Vorbild schlechthin für direkte Demokratie gilt, ist in Wahrheit eine halbdirekte Mischform aus plebiszitären und repräsentativen Verfahrensweisen, wenngleich die Möglichkeiten der unmittelbaren bürgerlichen Einflussnahme zahlreicher sind als beispielsweise in Deutschland.
So werden die Schweizer zum einen an vier Wochenenden im Jahr postalisch zur Abstimmung über neue Gesetzesvorlagen auf Gemeinde-, Kantons- und bundesstaatlicher Ebene gebeten. Zum anderen besteht die Möglichkeit des fakultativen Referendums, bei dem mithilfe von Unterschriften 50.000 Stimmberechtigter Gesetze angefochten werden können. Außerdem können im Rahmen einer Volksinitiative mit 100.000 gesammelten Unterschriften Verfassungsänderungen erwirkt werden. Bisweilen werden in einigen der 26 Kantone legislative Haushaltsentscheidungen bezüglich Finanzen, Steuern, Gerichten, Schulen etc. sogar komplett oder zumindest zu großen Teilen auf Bürgerebene, ohne parlamentarische Beteiligung getroffen.
Das Ziel der Verringerung der Kluft zwischen politischer Exekutive und Volkswillen scheint hier vielerorts erreicht zu sein. Direkte Demokratie wird dabei oftmals als
Kontrollinstanz gegen das Nichteinlösen diverser Wahlversprechen der Politiker, sowie gegen Korruption und Lobbyismus gepriesen. Zu schnell kann sich das Volk per Referendum rächen. Vorteile werden außerdem in der Genauigkeit und Individualität der Wahlmöglichkeiten gesehen. Man muss nicht deckungsgleich mit einem bestimmten präferierten Parteiprogramm sein, sondern kann jeweils problemspezifisch abstimmen und das nicht erst alle vier Jahre, wenn wieder Neuwahlen sind. Gleichzeitig kann das Gefühl der politischen Selbswirksamkeit sich positiv auf die Zufriedenheit und das Zugehörigkeitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger auswirken.
Dementsprechend fällt auch das Votum des Schweizer Ökonomieprofessors
Bruno S. Frey zugunsten der direkten Demokratie aus, wenn es um die zukünftige Strukturierung der Europäischen Union geht. So könnten innerhalb der EU, lokal und an die spezifischen kulturellen, wirtschaftlichen und geographischen Bedingungen und Probleme angepasste Lösungen gefunden werden und zentralistischen Einebnungstendenzen, welche die politische Diversität verkennen, entgegen gewirkt werden.
Dennoch birgt direkte Demokratie auch Gefahren. Nicht alle Bürger sind in gleichem Maße aufgeklärt, gebildet und kompetent im Umgang mit meinungsprägenden Instanzen wie den Medien, Politikern etc. Dadurch kann es mitunter zu bedenklichen Abstimmungen gegen Minderheiten kommen, wenn, wie beispielsweise in der
Schweiz geschehen, rechte Populisten Stimmung gegen Ausländer und Muslime machen. Gleichzeitig können plebiszitäre Verfahren die Reaktionsgeschwindigkeit politischer Entscheidungen erheblich verlangsamen.
Es bedarf also auch indirekter und repräsentativer Konrrekturmechanismen, damit nicht jede temporäre Stimmungsschwankung innerhalb der Bevölkerung gleich in ein Gesetz übersetzt wird.
Dennoch wäre es vielleicht auch hierzulande eine lohnende Mühe den Paternalismus etwas abzubauen und der Dialog-, Vernunft- und Entscheidungsfähigkeit des Volkes öfter mehr Vertrauen entgegen zu bringen.