VON JOACHIM SCHEUERER | 30.08.2013 14:25

Das neugierige Kind und der Dreck aus dem wir sind

Hygiene wird in unserer Gesellschaft groß geschrieben und das ist in vielen Bereichen wie beispielweise in der Medizin oder in der Lebensmittelbranche auch gut so. Dennoch wird es mit der Sauberkeit häufig auch übertrieben, wie z.B. bei der Kindererziehung. Von Beginn an haben Kinder eine ausgeprägte Neugier und das Bedürfnis sinnlich-haptische Erfahrungen zu machen, Dinge zu berühren, zu schmecken und zu riechen. Oftmals wird dieser Drang jedoch zu frühzeitig unterbunden, beispielweise aus sicherlich gut gemeinten Bestrebungen der Eltern, ihre Kinder vor "negativen" Erfahrungen zu bewahren oder auch aus dem Wunsch heraus ihnen frühstmöglich unsere gesellschaftlichen Manieren beizubringen oder auch einfach aus Unlust auf eine Sauerei. Doch solche sinnlichen Erfahrungen einer vermeintlichen "Sauerei" können äußerst zuträglich für die Entwicklung von Kindern sein. Zudem kann "Dreck" neben der Sinnlichkeit das Immunsystem fördern, wie man am "Bauernhofeffekt" sehen kann.


Was sollen Kinder denn sonst machen? Konsumieren!

Auf Spielplätzen ist es immer wieder zu beobachten, wie weit wir Städter uns zum Teil schon von der Natur entfernt haben. Eltern, die sofort mit einem Tuch angelaufen kommen, sobald ihr Kind etwas Sand um die Mundwinkel hat oder die den Wunsch des Kindes, den Brei selber zu löffeln ignorieren, um ja keine Sauerei zu machen oder die sich in sicherer Entfernung vom schmutzigen Sandkasten auf eine Bank setzen, um selbst nicht dreckig zu werden, sind keine Seltenheit. Sicherlich gibt es etwas Leckereres als Sand, aber wie soll ein Kind das herausfinden, wenn wir ihm diese Erfahrung immer vorenthalten? Und wie soll ein Kind selbstständig essen lernen, wenn wir ihm jedesmal den Löffel entreißen, sobald es sich bekleckert?

Dass Erfahrungen mit Schmutz positive Auswirkungen auf die Befindlichkeit von Kindern haben, zeigen auch die Untersuchungen von Kindern aus ländlichen, und vor allem bäuerlichen Umgebungen, wie sie z.B. Professorin Erika von Mutius anstellt. Kinder, die von kleinauf mit Scheune und Stall in Berührung gekommen sind, leiden wesentlich seltener an Asthma, Allergien und Hauterkrankungen, wie. z.B. Heuschnupfen, Lebensmittelallergien und Neurodermitis.

Doch eigentlich geht es hier um mehr als um einen gesundheitsfördernden Abbau von Berührungsängsten mit Schmutz, Dreck und Matsch. Im Endeffekt geht es hier um nichts anderes als den verloren gegangenen Kontakt zur Natur, der wir, entgegen aller Dämonisierungen des Menschen zum Unheilsbringer für Flora und Fauna, nach wie vor angehören, sowie die Bewahrung der kreativen Neugier des Kindes. Angst vor Schmutz, Käfern oder dem Klettern auf Bäumen sind alles Symptome des gleichen Kontaktverlusts, den auch Axel Schreiner vom Naturschutz- und Jugendzentrum in Wartaweil am Ammersee bestaunt. Dabei beklagt er auch die Unnatürlichkeit des Zugangs, der den Kindern durch die Erwachsenenwelt vermittelt wird. Natur wird demnach entweder zu sehr romantisiert, oder z.B. wie im Zoo als von uns abgetrenntes Ausstellungsstück präsentiert. Lebhaftes, wildes Toben und unverkrampfte, ungeordnete Begegnungen in freier Umgebung sind schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr.

In eine ähnliche Kerbe schlägt Salman Ansaris Warnung vor dem Verlust der kindlichen Neugier durch die Akademisierung der Frühförderung, welche den kreativen Eigenantrieb beim Aneignen, Entdecken und Erklären von Welt erheblich hemme.

Sicherlich ist es für Eltern nicht immer leicht, zwischen der Sicherheit und der Ermunterung des Forscherdrangs ihrer Kinder abzuwägen. Doch unter Umständen erzeugt die regelmäßige Möglichkeit zur selbstständigen Erfahrung genau das, was Eltern ihren Kindern oft mühsam beibringen wollen, aber auch all zu oft abnehmen: Selbstverantwortlichkeit und die Wahrnehmung der eigenen Grenzen. Darüber hinaus scheint ein gesundes Explorationsverhalten auch ein starker Indikator für die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung zu sein. Ängstliche und uninteressierte Kinder leben oftmals in gestörten Familienbindungen. Kinder brauchen also mindestens doppeltes Vertrauen. Einerseits müssen sie der eigenen Geborgenheit und Zuwendung durch die Eltern, sowie andererseits dem elterlichen Glauben an die eigene Urteilsfähigkeit vertrauen können.