VON ANNABELLA MARTINZ | 09.06.2016 15:14

Nebeneinander oder miteinander: Bilingualität und ihre Ausprägungen

Menschen definieren sich über ihre Sprache, ihre Sprachfähigkeit und –fertigkeit. Das Sprechen einer gemeinsamen Sprache schafft Gemeinsamkeit, ihre Ausprägung Zugehörigkeitsgefühl zu einer sozialen Gruppe. Durch den Erwerb einer zweiten Sprache kommen neue Handlungsmöglichkeiten und Denkmuster auf.





Zweisprachigkeit und Zugehörigkeitsgefühl

Wer die gleiche Sprache spricht, kann sich nicht nur verständigen, sondern die Fähigkeit der Verständigung stiftet immer auch Zugehörigkeitsgefühl und Zusammenhalt von Individuen, durch sie wird eine Identität gebildet. Über die Sprache werden Ansichten, Wertvorstellungen und Normen vermittelt, die Kultur wird in und durch die Sprache gelebt. Gleichzeitig dient sie auch der Abgrenzung: Wer nicht dieselbe Sprache spricht ist außen vor. Die anderssprachige Person versteht nicht nur nicht, was gesprochen wird, sondern kann auch keinen tieferen Einblick in die Kultur erlangen.

Der Erwerb von Bilingualität

Es gibt verschiedene Formen, wie es zu einer Bilingualität kommen kann.

Als frühkindliche Bilingualität wird eine Zweisprachigkeit bezeichnet, die „ganz natürlich“ durch das Elternhaus entsteht. Nicht selten kommt es vor, dass die Mutter eine andere Sprache als der Vater spricht und sich das Kind beide in gleichen Teilen von frühester Kindheit aneignet. Sukzessiv zweisprachige Kinder (auch konsekutive Bilingualität genannt) erlernen erst eine Sprache, im Kindergartenalter kommt dann eine weitere dazu. Dies geschieht hauptsächlich bei Kindern mit Migrationshintergrund, die im Kindergarten dann zum ersten Mal auf die Landessprache treffen.

Ab und zu tritt es auf, dass bilingual erzogene Kinder etwas später mit dem Sprechen anfangen als solche, die nur einsprachig aufwachsen. Wissenschaftler gingen deshalb davon aus, dass Kinder mit zwei Sprachen überfordert wären. Das wurde allerdings revidiert, denn es hat sich gezeigt, dass zweisprachige Kinder zwar etwas später anfangen zu sprechen aber relativ schnell aufholen und sich dann keine Unterschiede mehr feststellen lassen.

Der späte Bilingualismus unterscheidet sich insofern, dass eine weitere Sprache, die sich von der im Elternhaus gesprochenen unterscheidet, gezielt erlernt wird. Was in der frühkindlichen Phase rein intuitiv aufgenommen wird, muss später erarbeitet werden. Obwohl Kinder keine Grammatikregeln lernen, wissen sie die Muttersprache trotzdem richtig zu nutzen. Beim Erwerb einer zweiten Sprache ist es hartes Training.

Mit dem Latein am Ende?

Zweisprachigkeit ganzer Völker

Wie oben schon festgestellt, kann das Beherrschen einer Sprache Menschen verbinden und gleichzeitig voneinander abgrenzen. Obwohl Länder eine Einheit bilden, lassen sich weltweit einige Länder finden, deren Völker in unterschiedlichen Ausprägungen bilingual sind.

In Südtirol, der nördlichsten Provinz Italiens, wird italienisch als Amtssprache gesprochen. Das fast-autonome Land fühlt sich allerdings aus historischen Gründen dem deutschen Kulturraum zugehörig. 1972 wurde entschieden, dass die deutsche Sprache der italienischen von nun an rechtlich gleichgestellt werden soll. Dementsprechend sind in Südtirol zweisprachige Ortsschilder zu finden, zweisprachige Speisekarten und zweisprachige Ortsansässige.

Mehr als zwei Drittel der Bozener sind italienischsprachig. Landesweit sprechen fast 70 Prozent deutsch, knapp 30 Prozent italienisch, und es gibt noch eine kleine ladinischsprachige Minderheit.

Im Vergleich zu Südtirol wird die Bilingualität in Belgien anders ausgelebt. Das Land ist in einen niederländischen und einen französisch sprechenden Teil geteilt. Ein eher kleiner deutschsprachiger existiert ebenfalls.

Der anhaltende flämisch-wallonische Konflikt scheint eine Kommunikation unmöglich zu machen. Im Königreich leben zwei Bevölkerungsgruppen, die jeweils nichts mit dem anderen zu tun haben wollen. Im frankophonen Teil wird französisch gesprochen, im flämischen Teil niederländisch. Von einer Einheit keine Spur: Während überwiegend die frankophone Bevölkerung das Attribut „belgisch“ nutzt, versuchen sich flämische Institutionen bewusst davon zu differenzieren und benutzen das Attribut „flämisch“.

Das wohl bekannteste Land, in dem die Bevölkerung bilingual ist, stellt Indien dar. Über 100 eingetragener Sprachen verschiedener Sprachfamilien lassen sich in dem 1,25 Milliarden Menschen Land vorfinden. Die Artenvielfalt ist groß. Ganesh Devy, der Gründer des Forschungs- und Publikationszentrums Bhasha stellte 2013 eine Studie über die Sprachenvielfalt Indiens auf. Er kam auf 780 verschiedene Sprachen.

Auf bundesstaatlicher Ebene gilt Hindi als Amtssprache, sowie auch Englisch. Hindi wird von circa einem Drittel der Gesamtbevölkerung gesprochen, wobei nahestehende Sprachen addiert werden. Aufgrund der Sprachenvielfalt ist es möglich, dass amtliche Dokumente in 22 Sprachen eingereicht werden können, darunter Hindi, Englisch und weitere eingetragene Sprachen.

Im Norden Indiens wird Hindi als Erstsprache gesprochen. Auffallend ist, dass die Bevölkerung im Norden meist nur eine Sprache spricht, wohingegen im Süden lebende Menschen meist bilingual sind. Wenn zwei Menschen unterschiedlicher Sprachfamilien aufeinandertreffen wird sich mit Hindi oder Englisch verständigt, wobei nur 4-5% der indischen Bevölkerung Englisch auf hohem Niveau spricht.

Sprachenvielfalt als kulturelle Chance

Über die Sprache werden mehr als nur Informationen weitergegeben. Die Bilingualität ist somit nicht nur eine Erweiterung des Wissens um Vokabular, sondern eine Erweiterung um einen neuen Kulturkreis mitsamt seines eigenen sozialen Netzwerks.

Bilingualität hat verschiedene Vorkommnisse und Ausprägungen. Südtirol als Vorbild vorausgehend zeigt auf, dass die Bilingualität einer Bevölkerung friedlich gelebt werden kann. Es bleibt jeder Person selbst überlassen, welche Sprache in welcher Situation genutzt werden möchte.

Belgien ist ein passendes Beispiel dafür, inwiefern Sprache als Differenzierungsmerkmal auftritt: Ein Land mit zwei Lagern und zwei Sprachen.

Indien mit seiner flächenmäßigen Größenordnung, sowie der Vielzahl an Sprachen hebt wiederum hervor, wie selbst eine Milliardenbevölkerung zu einer friedlichen (Ver-)einigung kommt.