VON CLEMENS POKORNY | 29.06.2016 13:58

Sprechen wir wirklich, wie uns der Schnabel gewachsen ist? Über Dialekte und die deutsche Hochsprache

Das gesprochene und das geschriebene Deutsch unterscheiden sich deutlich. Dass sich in einem so großen Gebiet wie der Bundesrepublik verschiedene lokale Dialekte entwickeln, ist kein Wunder. Doch wir kamen anders als unsere zentralistisch verwalteten Nachbarn wie Frankreich oder England zu unserer Hochsprache. Ihr gegenüber haben die Dialekte heute einen schweren Stand.

„Wir können alles außer Hochdeutsch.“ Mit diesem selbstironischen Spruch warb Baden-Württemberg vor einigen Jahren für sich. Allerdings wurde die Ironie doppelt gebrochen: Erstens dadurch, dass man im Ländle ja tatsächlich sehr leistungsbereit ist – nirgendwo sonst in Deutschland werden so viele Patente angemeldet wie dort –, und zweitens dadurch, dass der Satz selbst in reinem Hochdeutsch statt im Dialekt geschrieben war. Geschrieben, nicht gesprochen: Kaum jemand stört sich heute an gesprochenen Dialekten, während für alle schriftlichen Kommunikationsanlässe mit Ausnahme mundartlicher Literatur das Hochdeutsche die Norm ist. Wieso eigentlich? Und wie hat sich die Gestalt unserer Hochsprache überhaupt herausgebildet und gegenüber den Dialekten durchgesetzt?

„Deutsch“ (von ahd. „diutisc“) bedeutet „zum Volk gehörig“. Dieses „Volk“ aber zerfiel in der Antike in verschiedene Stämme und später (bis 1871) in diverse kleinere und größere monarchisch regierte Teilstaaten. Zusammengehalten wurde es durch eine gemeinsame Sprache, die aber lange Zeit nur in der Verwandtschaft der einzelnen Dialekte bestand, die seit dem Mittelalter in relativ stabilen Gebieten etabliert sind. Von ihnen gab und gibt es eine große Zahl, die gegenwärtig in vier große Gruppen eingeteilt werden: (1) das Friesische im äußersten Nordwesten, (2) die niederdeutschen Dialekte im übrigen Norddeutschland bis zur sogenannten Benrather Linie (entlang der West-Ost-Achse Köln-Kassel-Magdeburg), (3) das Mitteldeutsche im mittleren Deutschland (bis einschließlich Rheinland-Pfalz, Hessen sowie Teile von Thüringen und Sachsen), und schließlich (4) oberdeutsche Dialekte, vor allem in Baden-Württemberg und Bayern. Zwischen Nord- und Bodensee liegen nicht nur geographisch, sondern auch sprachlich gesehen Welten. Solange die beiden Regionen politisch getrennt waren, war es kein Problem, dass der Flensburger und der Konstanzer Fischer den Dialekt des jeweils Anderen nicht verstanden. Eine europaweit verstandene Sprache war für die jahrhundertelang wenigen Reisenden in Gestalt der auf romanischen Sprachen basierenden Behelfssprache „Lingua Franca“ (v.a. für Händler) bzw. des Latein (für Gelehrte und Klerus) bereits vorhanden.

Unterordnung und Assimilierung

Von genau diesem Latein grenzte Martin Luther sich ab, als er die Bibel ins Deutsche übersetzte und drucken ließ. Er vermied sogar die lateinische Antiqua-Schrift und wählte stattdessen die Fraktur (bei der die Rundungen der Buchstaben „gebrochen“ werden). Zusammen mit der von ihm begründeten Reformation verbreitete sich die Luther-Bibel schnell und in großen Stückzahlen. Die von Luther verwendete Schriftsprache war das Ostmitteldeutsche, genauer gesagt der sächsische Dialekt seiner Heimat. Damit und mit Wortschöpfungen wie „Feuertaufe“, „Bluthund“, „Selbstverleugnung“, „Machtwort“ und „Lockvogel“ sowie Redewendungen wie „die Zähne zusammenbeißen“, „etwas ausposaunen“, „im Dunkeln tappen“ oder auch „ein Herz und eine Seele“ prägte er die deutsche Schriftsprache bis heute. Unterstützt wurde diese Entwicklung schon im 17. Jahrhundert von Gelehrten wie Johann Christoph Gottsched, der sich, wie Luther, an der in staatlichen Stellen des sächsischen Meißen gebräuchlichen Sprache orientierte und es als Standard empfahl. Mit der Anerkennung, die das Duden-Wörterbuch schnell fand, wurde ab dem 19. Jahrhundert diese Schriftsprache endgültig als Hochsprache festgelegt.

Auf dem Gebiet der gesprochenen Sprache entfaltete Theodor Siebs Werk „Deutsche Aussprache“ (erstmals 1898 erschienen) ähnliche Wirkung wie Konrad Dudens Nachschlagewerk. Ironischerweise legte damit ein Norddeutscher Ausspracheregeln für eine Sprache fest, die von der seinigen eigentlich recht weit entfernt war (und ist). Denn das Niederdeutsche hat bis heute die sogenannte Zweite Lautverschiebung nicht vollzogen, in deren Rahmen in vielen Fällen z.B. „t“ zu „z“ (z.B. in „sitzen“, vgl. dagegen engl. „to sit“) oder „s“ wurde (vgl. „was“ neben norddt. „wat“).

In Folge der Sprachnormierungen gerieten, wie man sieht, die Dialekte zugunsten landesweit leichterer Kommunikation ins Hintertreffen. Beispielsweise wurde das Friesische für minderwertig erklärt und den Kindern in den Schulen abzuerziehen versucht. Bis heute lernen viele Deutsche ihre Hochsprache erst im Unterricht. Doch die Dialekte, von der Wortherkunft zur „Unterhaltung“ mit anderen bestimmt, gehen angesichts von Landflucht und beruflich geforderter Mobilität immer mehr zurück. Werden wir eines Tages sagen müssen: „Wir können alles außer Dialekte.“?

Bild: "Plakat in Berlinerisch" von /// Sarah via flickr.com. Von UNI.DE zugeschnitten und mit ©-Hinweis versehen. Lizenz: CC BY-NC 2.0