VON CLEMENS POKORNY
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24.06.2016 12:31
Salut oder Hello? Über den Schweizer Sprachenstreit
In der traditionell mehrsprachigen Schweiz wird seit Jahren ein Streit über den Unterricht ausgetragen: Soll an den Schulen in den deutschschweizerischen Kantonen Französisch weiterhin ab der dritten oder fünften Klasse Pflichtfach sein oder soll es ein Wahlfach in der Oberstufe werden? Einige Kantone haben sich in juristisch uneindeutiger Lage für Letzeres entschieden – und den Zorn der frankophonen Landesteile auf sich gezogen.
Die Schweiz ist eine Willensnation: Nicht aufgrund einer gemeinsamen Sprache ist sie entstanden und auch nicht, weil etwa ein Monarch das Gebiet vom Boden- bis zum Genfer See und vom Jura bis zu den Rheinquellen vereinigt hätte. Schon im Jahr 1291 schlossen sich die Gebiete Uri, Schwyz und Unterwalden zu einer freiwilligen „Eidgenossenschaft“ zusammen, die nach vielen Erweiterungen und Änderungen heute 26 Kantone umfasst. Diese föderale Struktur der Schweiz erfordert nicht nur politische Kompromissfähigkeit, sondern auch sprachliche Flexibilität, sprechen doch etwas mehr als 70% der Prozent der Schweizer Bevölkerung Schweizerdeutsch, nicht ganz 25% Französisch und über 5% Italienisch. Drei Amtssprachen gibt es daher schweizweit, zu denen sich im Kanton Graubünden noch eine regionale, das Bündnerromanische (Rätoromanische) gesellt.
Das Miteinander der vier Sprachen funktionierte lange Zeit ganz passabel: Fast alle Eidgenossen beherrschen mindestens eine weitere Amtssprache, wenn auch nicht gerade besonders gut. Die Welschen, wie die frankophonen Schweizer von den deutschsprachigen wertneutral auch genannt werden, stehen, neben der fehlenden Bedeutung des Deutschen in ihrem Alltag, vor noch einem weiteren Kommunikationshindernis: Sie erlernen in den Schulen die schwyzerdeutsche Schriftsprache, mit der sie zwar deutsche Texte lesen können, die ihnen aber im Gespräch mit den meist Mundart sprechenden Deutschschweizern herzlich wenig hilft. Obwohl alle Romands (französischsprachigen Schweizer) Deutsch schon ab der dritten Klasse lernen, sind ihre gemessenen Kenntnisse bescheiden – und sie geben auch selbst an, sich in der Deutschschweiz nicht einmal durchschlagen zu können.
Das globale Selbst
Was eine lokalisierte von einer globalisierten Lebenswelt trennt und wie Globalisierung gerechter für alle Menschen gestaltet werden kann
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Im Zuge der Globalisierung bedroht seit Jahren ein Eindringling den fragilen Frieden zwischen den Sprachen: Das Englische hat an Bedeutung gewonnen und droht insbesondere in der Deutschschweiz, dem Französischen den Rang abzulaufen. 2005 hatten sich die Kantone darauf geeinigt, die erste Fremdsprache ab der dritten und die zweite ab der fünften Klasse lernen zu lassen. In den deutschschweizerischen Kantonen bedeutete das: Zuerst wird Französisch oder Englisch gelernt, dann die jeweils andere Sprache. Doch
mittlerweile haben sich mehrere Kantone von diesem Kompromiss verabschiedet und das Französische als fakultative dritte Fremdsprache in die Oberstufe verbannt. Begründung: Die geringen Lernerfolge (
nur 3,4% der Achtklässler erreichen das angestrebte Kompetenzniveau) rechtfertigten den hohen Aufwand nicht, mit dem das Fach betrieben werde, und ohnehin sei Englisch weltweit gesehen wichtiger, während die Bedeutung des Französischen weiter zurückgehe. Die Kritiker aus der Romandie und aus den fortschrittlichen politischen Parteien dagegen sehen in der Abwertung des Französischen eine
Gefährdung des nationalen Zusammenhalts.
Das ist sicherlich übertrieben. „
Les Suisses s'entendent bien parce qu' ils ne se comprennent pas“, die Schweizer verstehen sich gut, weil sie einander nicht verstehen, ätzte der Politiker Georges-André Chevallaz einst. Die Bedenken gegen zwei Fremdsprachen innerhalb der ersten fünf Schuljahre für alle Schülerinnen und Schüler sind auch nicht von der Hand zu weisen, und
die Behauptung, je früher man eine Fremdsprache in der Schule lerne, desto besser, ist mittlerweile widerlegt. Doch kommt der zweitgrößten Sprachminderheit in einem mehrsprachigen Land nicht eine zu große Bedeutung zu, als dass ihre Sprache an den Schulen anderer Landesteile aufs Abstellgleis geschoben werden dürfte? Und wenn man diese Frage bejaht: Ab wann sollte Französisch an deutschschweizerischen Schulen spätestens gelernt werden? Gerade die Tatsache, dass um diese Fragen so angeregt diskutiert wird,
spricht für die Willensnation Schweiz.