VON CLEMENS POKORNY | 20.02.2015 13:15

Mit dem Latein am Ende?

Latein und Altgriechisch gehörten früher ganz selbstverständlich zur gymnasialen Bildung. Es sind Fächer, an denen sich sprachliche Schönheit und Logik wie sonst nirgends erleben lässt. Heutzutage werden sie oft als unnütz geschmäht und befinden sich an vielen Schulen auf dem Rückzug. Doch sie sind auch, wie sich zeigen lässt, im Hinblick auf die persönliche Entwicklung und z.B. für das Erlernen moderner Sprachen ein durchaus nützlicher Umweg – und tragen Grundlegendes zur Bildung bei, das keine anderen Fächer zu vermitteln vermögen.


Im Film „Der Club der toten Dichter“ versteht es der Lehrer John Keating alias Robin Williams, seine Schüler so sehr für Literatur zu begeistern, dass sie aus eigenem Antrieb heraus den titelgebenden Bund gründen, in dem sie einander alte Gedichte vortragen. Eine unrealistische Geschichte? Immerhin zeigt eine aktuelle Debatte in der „Zeit“, dass sowohl Schülerinnen und Schüler als auch die Verantwortlichen in der Politik den „schönen“ Fächern nicht immer zugetan sind. Besonders „unnütze“ Fächer wie die alten Sprachen Altgriechisch und Latein drohen, von Medien, Politik und nicht zuletzt den Schulen selbst leicht auf die Abschussliste gesetzt zu werden. Dabei ist ihr Platz an unseren Schulen und in unserem Bildungskanon berechtigt.

Sprache ohne funktionieren Grammatik auch?

Das war schon seit Jahrhunderten so. Bis um das Jahr 1900 herum mussten alle Abiturientinnen und Abiturienten einen Aufsatz zu einem vorher bestimmten Thema verfassen – und zwar auf Latein. Das war bis ins 19. Jahrhundert immerhin nicht nur die Gelehrtensprache, sondern auch die lingua franca, dasjenige Idiom also, in dem sich europäische Gebildete verschiedener Muttersprachen untereinander verständigen konnten. Altgriechisch dagegen beherrschte im Mittelalter kaum jemand; es wurde erst mit der Wiederentdeckung der Antike im Renaissancehumanismus und später mit der Förderung von Individualität und ganzheitlicher Bildung im sogenannten Neuhumanismus (erste Hälfte des 19. Jahrhunderts) vermehrt in deutschen Klassenzimmern und Seminarräumen unterrichtet.

Die alten Sprachen haben also eine lange Tradition in Deutschland. Die Zahl der Lateinlernenden erhöhte sich durch die Einführung des achtjährigen Gymnasiums in fast allen Bundesländern eher – viele Eltern wollten ihre Kinder nicht schon im zweiten Lernjahr nach Englisch eine zweite moderne Fremdsprache lernen lassen. Dagegen bleibt die Zahl der Griechischlernenden gleich oder geht leicht zurück. Insgesamt betrachtet nehmen die Bedeutung der alten Sprachen in der deutschen Bildungslandschaft und das Angebot an diesen Fächern an den Gymnasien aber ab. Latein leidet unter Angriffen wie einer Studierendeninitiative in Nordrhein-Westfalen, die kürzlich anstrebte, das Latinum als Zulassungsvoraussetzung für verschiedene Studiengänge abzuschaffen. In anderen europäischen Ländern hatten die alten Sprachen teilweise nie dieselbe hohe Bedeutung wie in Deutschland – oder aber sie haben sie noch immer, etwa in England oder im Land der Enkel der Römer, Italien, wo es in jeder größeren Stadt ein humanistisches Gymnasium gibt, also eine Schule mit Latein und Altgriechisch.

In einer Zeit von Ökonomisierung und Rationalisierung stellen in Deutschland dagegen viele Betroffene auch in der Bildung die Nutzenfrage: Wozu eine tote Sprache lernen? Der Publizist Ulrich Greiner weist diesen Angriff in seinem Beitrag zur zitierten ZEIT-Debatte nicht nur deshalb zurück, weil er für den Eigenwert des Schönen plädiert, sondern weil er befürchtet, dass Griechisch und Latein gegenüber modernen Fremdsprachen sich letztlich immer als weniger nützlich erweisen könnten. Er rät daher dazu, sich gar nicht erst auf Nützlichkeitsdiskussionen einzulassen. Damit läuft er aber Gefahr, an der Realität der Schulen vorbei zu schreiben, die auch die Kindern von Eltern ohne großen Sinn für das Schöne für die alten Sprachen gewinnen sollten.

Für diesen Zweck hat der ehemals in der Lehrerausbildung tätige Professor Friedrich Maier zehn Gründe in einem schmalen Bändchen versammelt, die für das Lateinlernen sprechen. Latein (und, das sei ergänzt, auch Altgriechisch) ist nach Maier der Königsweg zu einem vertieften Verständnis davon, was Sprache ist. Dadurch und durch die Tatsache, dass sich viele Wörter in den romanischen Sprachen leicht aus dem Lateinischen herleiten lassen, schlage Latein eine „Brücke zu modernen Fremdsprachen“: Lateinlernende erlernen diese nachweislich leichter als jene, die vor ihrem Französisch- oder Italienischunterricht kein Latein hatten. Ferner sei die Sprache ein „Trainingsfeld für die Muttersprache“, das Jugendliche über die Alltagssprache hinaus und zu einem besseren Sprachgefühl führe – auch das ist bewiesen. Latein sensibilisiere durch die Auseinandersetzung mit rhetorischen Meisterwerken für die Redekunst, verhelfe damit zu Eloquenz und immunisiere zugleich gegen Manipulation mit sprachlichen Mitteln. Beide alten Sprachen führten zu den historischen Wurzeln Europas und zu den Ursprüngen sprachlicher Bilder (z.B. von Sprichwörtern) als Teil unserer Allgemeinbildung. Schließlich ermöglichten Altgriechisch und Latein die Begegnung mit für Europa grundlegenden Texten (z.B. dem Wortlaut des Hippokratischen Eides), mit noch heute gelesenen Dichtern und Philosophen wie Homer oder Platon und nicht zuletzt mit Personen, die die Welt veränderten, etwa Julius Cäsar.

Dies alles begründet einen Eigenwert und einen Nutzen der alten Sprachen, die sie unersetzlich machen. Je weniger sie unterrichtet werden, desto mehr verschwindet von dem, was nur sie nahe zu bringen vermögen. Nicht jeder Mensch muss Latein und Altgriechisch schön finden oder sich für die Inhalte, die in diesen Fächern vermittelt werden, interessieren. Aber es kann nicht bestritten werden, dass sie einen wesentlichen Teil europäischer Bildung ausmachen.