VON LISI WASMER
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07.08.2014 20:33
Sprache ohne funktionieren Grammatik auch?
Ferne Länder erkunden, fremde Kulturen entdecken – gerade jetzt zur Feriensaison eine verlockende Vorstellung. Zumindest so lange, bis man im Ausland am Flughafen landet, obwohl man eigentlich nur Bahnhof versteht: Gerade im Urlaub wünscht man sich oft, man hätte damals im Englisch- oder Französisch-Unterricht besser aufgepasst. Aber der Lehrer war so eine Schlaftablette. Und außerdem kam er einem immer mit dieser kniffligen Grammatik. Dabei braucht man die in Wirklichkeit ja doch nicht, um sich zu verständigen. Oder etwa doch? Welche Bedeutung kommt ihr zu und wer hat Grammatik eigentlich erfunden?
Der Sprachdidaktik-Professor Ulrich Schmitz legte 2003 ungefähr 200 Essener Germanistik-Studenten Fachausdrücke aus dem Deutschunterricht vor und fragte sie nach deren Bedeutung. Trotz „großzügiger“ Auswertung konnten nicht mehr als fünf Studenten über die Hälfte der angegebenen Begriffe korrekt erklären (eine Auswahl von Schmitz dokumentierter ungenauer bis falscher Aussagen gibt Christa Dürscheid von der Zürcher Universität in einem Lehrbuchbeitrag von 2007 wieder).
Was macht erfolgreichen Unterricht aus?
Aus den verschiedenen Lehrmethoden ragt keine gleichsam als Patentrezept heraus. Entscheidend für guten Unterricht ist vielmehr – wir hatten es geahnt – die Lehrkraft
[...]»
Schmitz zeigte sich in seinem Bericht entsetzt: „Bei den allermeisten von ihnen hätten diese erbärmlichen Trümmer grammatischen Grundwissens nicht zur 250-Euro-Frage im Fernsehquiz gereicht“ (zit. nach Dürscheid 2007). Ob diese Entrüstung gerechtfertigt ist, was das Testergebnis über die jungen Menschen in unserem Land, unser Bildungswesen im Allgemeinen und den Deutsch-Unterricht im Speziellen auch aussagen möchte – letztendlich bleibt nur eine Frage: Für was außer für ein Fernseh-Quiz sollen Grammatik-Kenntnisse überhaupt zu gebrauchen sein?
Wer hat’s erfunden?
Neugierige Menschen entdecken vielleicht sogar noch eine zweite Frage, nämlich das allseits bekannte Kräuterbonbon-Rätsel: Wer hat’s erfunden? Die Antwort ist im Fall der Grammatik so simpel wie unbefriedigend: niemand. Ebenso wie sich uns die Kenntnis um die Urheberschaft der verschiedenen Sprachen entzieht (vielleicht einfach deshalb, weil es eine direkt zuordenbare Urheberschaft gar nicht gibt), kann auch kein bestimmter „Erfinder“ der Grammatik ermittelt werden.
Bekannt ist, dass die Sophisten, allen voran Protagoras, bereits in der griechischen Antike eine wissenschaftliche Untersuchung der Grammatik betrieben, etwa verschiedene Geschlechter, Zeiten und Modi unterschieden. Was die deutsche Grammatik angeht, verlässt man sich im Allgemeinen gerne auf Konrad Duden und das nach ihm benannte Nachschlagewerk. Tatsächlich scheint sie zuerst jedoch von einem mittelfränkischen Pfarrer namens
Friedrich Bauer festgeschrieben worden sein.
250 Euro. Und sonst?
Zurück zu Schmitz und seinem Test: Einmal angenommen, man säße nun im Fernsehquiz, gerade hat man – aller Schmitz’schen Unkenrufe zum Trotz – die 250-Euro-Frage zur deutschen Grammatik korrekt beantwortet; was kommt danach? Was außer den zugegebenermaßen erfreulichen 250 Euro (und gegebenenfalls dem Wohlwollen Herrn Schmitzens) habe ich dadurch gewonnen, dass ich die Grammatik beherrsche?
Nichts, sagen die einen. Weil Grammatik (wir haben es ja schon immer gewusst) gar nicht so wichtig ist. Wer diese Meinung vertritt, kann sich sogar auf eine in der Sprachwissenschaft weit verbreitete Theorie zurückgreifen. Man könnte die Unwichtigkeit der Grammatik nämlich damit begründen, dass wir Menschen sowieso von Geburt an eine Art Urwissen davon haben, wie Sprache funktioniert, eine angeborene universale Grammatik. Bei genauer Betrachtung spricht das natürlich noch lange nicht für die Irrelevanz der Grammatik, aber es wäre ein Anfang.
Der wohl berühmteste Vertreter dieser Hypothese ist der amerikanische Linguist Noam Chomsky, dessen wissenschaftliche Überlegungen zur „
generativen Transformationsgrammatik“ von der Sophist GmbH übersichtlich zusammengefasst wurden. Abgesehen von seiner über Jahrzehnte hinweg entwickelten Grammatiktheorie geht Chomsky davon aus, dass es bestimmte grammatische Grundregeln gibt, die universal, also für alle Sprachen gültig sind und somit angeboren sein müssen, zumal es kaum möglich sei, überhaupt irgendeine Sprache zu lernen, hätte der Mensch nicht von Geburt an zumindest ein rudimentäres grammatisches Verständnis. Und wer außer Herrn Schmitz sagt eigentlich, dass das zur Verständigung nicht reicht?
250 Euro. Und den Rest der Welt.
Viele (einmal abgesehen von der Tatsache, dass zahlreiche Sprachwissenschaftler bei Weitem nicht mit Chomsky und seiner Hypothese zur angeborenen Universalgrammatik übereinstimmen). Sverker Johansson von der Universität von Lund in Schweden brachte das Für und Wider zu Chomskys Hypothese bereits 1991 in einer kritischen
Studie auf den Punkt.
Man kann aber auch weniger theoretisch eine Lanze für die Grammatik brechen: Kyle Wiens, CEO der Online-Reparatur-Website „iFixit“ und Gründer des Software-Unternehmens „Dozuki“ liefert in einem
Gastbeitrag des Magazins „Harvard Business Manager“ einen ganz lebensnahen Grund. Wer beim Bewerbungsgespräch im Grammatik-Test versagt, bekommt keinen Job. „Grammatik zeugt von mehr als der Fähigkeit einer Person, sich an den Schulstoff zu erinnern“, schreibt Wiens. Sorgfalt, Genauigkeit, Lernfähigkeit. Alles Eigenschaften, auf die gute Grammatik-Kenntnisse hinweisen können.
Abgesehen davon scheint die Grammatik doch nicht so unwichtig, wie Chomskys Universalien fälschlicherweise vermuten lassen könnten. Ein ganz praktisches Beispiel, wie es in einem
Internetforum für Schriftsteller und Autoren gebracht wurde: Der französische Satz „J’ai posé ton livre sur la table brune“ bedeutet zu Deutsch „Ich habe Dein Buch auf den braunen Tisch gelegt“. Wörtlich übersetzt heißt er „Ich habe gelegt Dein Buch auf den Tisch braunen“. Noch scheint der Satz gut verständlich, was vom Autoren des Beispiels auf den gemeinsamen indo-germanischen Ursprung der Sprachen Deutsch und Französisch zurückzuführen sein könnte. Den wahren Mehrwert der Grammatik für das Verständnis einfachster Sätze zeigt eine Überführung der Bausteine des Beispielsatzes in ihre Grundform: „Ich legen Dein Tisch Buch braun auf“. Die Reihenfolge fehlt, die Beugung der Wörter – was bleibt ist eine sinnlose Ansammlung von Wörtern, deren ursprüngliche Bedeutung im besten Fall nur noch erahnt werden kann.
Was bringt uns also die Grammatik? Hypothetische 250 Euro, das ist nun klar. Und die Möglichkeit zu verstehen. Und was will man noch?