VON MAXIMILIAN REICHLIN | 09.02.2015 12:34

Bildung für alle? In Deutschland hat Chancengleichheit keine Chance

Bildungserfolge hängen in Deutschland immer noch stark von den sozialen Hintergründen der Schüler ab. Das hat eine aktuelle Studie ergeben, die Ende letzten Jahres erschienen ist. Abgesehen von einigen positiven Tendenzen, was Abiturienten und Schulabgänger anbelangt, besteht in Sachen Chancengleichheit noch Handlungsbedarf. Vor allem das unübersichtliche System mit einer Vielzahl verschiedener Schulformen sei ein Auslöser dieses Problems. UNI.DE auf der Suche nach Fakten und Hintergründen.


Der aktuelle „Chancenspiegel“, eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, hat ergeben, dass das deutsche Bildungssystem noch immer signifikante Defizite im Bereich Chancengleichheit aufweist. So ist der schulische Erfolg stark vom familiären und sozialen Hintergrund der Schüler abhängig, was sich schon in der Grundschule bemerkbar macht. Schüler aus sozial schwachen Familien liegen im Schnitt um ein ganzes Schuljahr hinter Gleichaltrigen zurück, die aus einem sozial gefestigtem Elternhaus stammen, zum Beispiel in Sachen Lesekompetenz. In der Mathematik auf Neuntklassniveau besteht sogar ein Unterschied von bis zu zwei Jahren.

Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher - Der beinahe unmögliche Weg nach oben

Die im Dezember 2014 veröffentlichte Studie untersuchte die Bildungschancen der Schüler im Schuljahr 2011/2012 im Vergleich zum Schuljahr 2009/2010. Erstmals wurden auch Schwankungen zwischen den einzelnen Bundesländern in vier Teilbereichen der Chancengleichheit analysiert: Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe. Das Ergebnis: Bezogen auf alle vier Kategorien erreichte Thüringen die höchste Gesamtpunktzahl, allerdings, so die Studie, ist keines der untersuchten Bundesländer gleichzeitig „in allen Bereichen Spitzenreiter oder Schlusslicht.“

Untersucht wurde außerdem das Verhältnis der Aufstiege, also der Wechsel von einer niedrigeren auf eine höhere Schulart, und Abstiege in umgekehrter Richtung. Demnach kämen im deutschen Schulsystem auf einen Aufstieg durchschnittlich 4,2 Abstiege. Keine signifikante Verbesserung zum Schuljahr 2009/2010: Damals betrug das Verhältnis noch 1 zu 4,3. Steigerungen gab es allerdings in Hinsicht auf die Zahl der Schulabgänger, die sich um knapp ein Zehntel, von 6,9 Prozent auf 6,2 Prozent der Schüler verringerte, und die Anzahl der Hochschulabschlüsse, die im untersuchten Zeitraum ein Rekordhoch von rund 51 Prozent erreichte.

Damit lassen die Studienergebnisse die deutsche Bildungspolitik ein Stück weit aufatmen, nachdem sie von den katastrophalen Ergebnissen der PISA-Studie im Jahr 2000 in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Handlungsbedarf bestehe dennoch, so der Bertelsmann-Vorstand Jörg Dräger: Insgesamt gehe es mit der Chancengleichheit „eher im Schneckentempo voran.“ Einen Grund dafür nennt Wilfried Bos, Direktor des Instituts für Schulentwicklungsforschung (ISF) der Universität Dortmund. Die schiere Anzahl der rund 100 verschiedenen Schulformen in Deutschland und die größtenteils eigenständige Verwaltung der Bundesländer über ihre eigene Bildungspolitik führe demnach zu einem unübersichtlichen Chaos. Das behindere wiederum die Chancengleichheit.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine bereits 2013 veröffentlichte Langzeitstudie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die die Chancengleichheit des deutschen Bildungssystems in den internationalen Vergleich stellte. Demnach befinde sich Deutschland in Sachen Chancengleichheit auf einer Stufe mit den USA am unteren Ende der Skala, deutlich besser schnitten die skandinavischen Länder ab. Auch das sei auf auf das mehrgliedrige Schulsystem zurückzuführen. So gingen die Schüler in Skandinavien alle auf die gleiche Schule, unabhängig vom sozialen Hintergrund der Eltern. Ein ähnliches System wünscht sich Jörg Dräger auch für das deutsche Bildungssystem, möglicherweise mit einer verbindlichen Ganztagsschule, die sich in der Bertelsmann-Studie als erfolgreichstes Modell erwies.