VON BERNHARD DRAGASCHNIG | 12.09.2013 15:15

Was vom Tag bleibt: Alles nur Zufall oder wie weit können wir statistischen Vorhersagen trauen?

Nasim Nicolas Taleb, Autor der Bestseller „Der Schwarze Schwan“, „Narren des Zufalls“ und „Anti-Fragilität“ hat einige Thesen aufgeworfen, die wissenschaftlichen Fortschritt, basierend auf statistischen Erkenntnissen, teilweise in Frage stellen und zum Nachdenken über den Zufall und dessen Rolle in unserem Leben anregen.
Ich möchte in diesem Text, aufbauend auf Taleb`s Thesen, für ein selbstbestimmteres Handeln und einen alternativen Blick auf die Welt plädieren.



Die Prophezeiung des Marshall McLuhan

Der Weg des Fortschritts

Wir leben in einer hochgradig technologieverliebten Welt. Moore’s Law postuliert eine Verdopplung der Schaltkreise im Bereich der Microchips und eine damit verbundene Leistungssteigerung alle 18 Monate. Die Frage ist, ob es sich hier um tatsächlichen Fortschritt handelt oder ob die zusätzlichen Kapazitäten nicht mehr Rauschen produzieren als Nutzen dadurch entsteht? Immerhin werden laufend Studien veröffentlicht, Vorhersagen gemacht und Produkte weiterentwickelt. Auch Marshall McLuhan hat mit seiner These „Das Medium ist die Botschaft“ bereits darauf hingewiesen. Die Frage ist, ob unsere universitäre Wissensmaschine wirklich zu mehr Wissen und einer besseren Gesellschaft führt? Was wäre, wenn viele unserer Entwicklungen und Errungenschaften auf falschen Voraussetzungen basieren und den Blick auf das tatsächliche Leben verzerren? Was wäre, wenn der Zufall eine viel entscheidendere Rolle in unserer rationalisierten und geplanten Welt spielt als wir es ursprünglich erwarten würden? Wie stellen wir sicher, dass der Realitätsausschnitt, den wir betrachten, nicht zu klein gewählt ist?

Die Ökonomie und die Leugnung des Zufalls

Als Modell für meine Ausführungen möchte ich insbesondere den Bereich der Ökonomie herausgreifen. Unsere Bestrebungen in diesem Feld zielen nämlich überwiegend auf Kostenoptimierung und Effizienzsteigerung ab. Wir möchten die Dinge effektiver machen, um Ressourcen zu sparen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir jedoch Redundanzen aus unserem Leben entfernen. Alles, was in mehrfacher Ausführung vorhanden ist, fällt somit Rationalisierungsprozessen zum Opfer. Und das, obwohl gerade Redundanzen in der Natur wichtige Elemente sind, um sich gegen zufällige negative Phänomene zu schützen. So haben wir beispielsweise zwei Ohren, zwei Augen und zwei Nieren. Wenn eines dieser Organe ausfällt, kann seine Funktion durch den Organismus gänzlich oder zum Teil ausgeglichen werden. Fällt jedoch in der Wirtschaft das Bankensystem aus, ist der gesamte Wirtschaftskreislauf gefährdet. Die Natur hat uns hier einiges voraus.

Ausgangspunkt für Rationalisierungsüberlegungen ist, wie Taleb argumentiert, die Gaußsche Glockenkurve. Auf dieses Instrument greifen Ökonomen und Wirtschaftswissenschaftler immer dann zurück, wenn sie die Zukunft „zähmen“ möchten, um so besser kalkulieren zu können. Beispiele hierfür gibt es viele: „Der zukünftige Unternehmensgewinn wird bei dem Bau eines weiteren Werkes jährlich um 3 % wachsen“, „Wenn wir diese Maßnahmen umsetzen, ist mit einer Absatzsteigerung von 6 % zu rechnen“, „Die Fertigstellung des Flughafens wird 3 Jahre dauern und 450 Mio. € kosten“. Zu welchen tatsächlichen Ergebnissen solche Annahmen jedoch oft führen, ist uns hinlänglich bekannt. Grund dafür ist, dass man sich dabei viel zu oft blind auf Gauß‘ Theorien verlässt, ohne deren Gültigkeit in der Praxis zu hinterfragen und ohne mögliche Konsequenzen und alternative Szenarien ausreichend zu berücksichtigen. Bei dieser „Fehleinschätzung der Realität“ werden extreme Abweichungen nicht berücksichtigt und als Untersuchungsobjekt ausgeschlossen. Man konzentriert sich dabei auf den Regelfall und hofft auf dessen Eintreffen. So sind es aber gerade „statistische Ausreißer“, die ein Unternehmen in Schieflage bringen oder ein ganzes Gesellschaftssystem bedrohen können. Am Ende wird dann schlussgefolgert: „Dass das passiert, konnte ja keiner ahnen“, „So ein Ereignis gab es in der Vergangenheit noch nie“.

Hieraus müssen wir lernen und unsere Schlüsse ziehen. Ist es nämlich wirklich notwendig in die Zukunft sehen zu können? Ist es nicht viel vernünftiger sich so auszurichten, dass einem künftige Ereignisse weniger Schaden zufügen können oder man von ihnen sogar profitieren könnte (Taleb: Anti-Fragilität). Anstatt Effizienz zu predigen, sollten wir uns wieder darauf besinnen, was Stabilität schafft. Eine permanente Reduzierung von Stressoren macht uns fragil gegenüber unvorhersehbaren Ereignissen und wiegt uns in einer falschen Sicherheit. Wer sich sein Leben lang auf falsche Vorhersagemodelle beruft, in denen keine Extremereignisse Platz finden, macht sich angreifbar und damit auch verwundbar. Wir brauchen deshalb wieder mehr Unternehmergeist und weniger Abhängigkeit von Großkonzernen. Denn, wer übernimmt die Verantwortung, wenn Vorhersagen nicht eintreffen?

Konsequenzen für den Umgang mit einer komplexen Welt

Aber das Aufzeigen dieser Probleme ist zu wenig. Wir brauchen klare Vorschläge, um mit einer Welt, die wir nicht verstehen, umgehen zu können. Unsicherheit ist nichts was wir vermeiden müssen, sondern - wie Taleb ausführt – etwas, auf das wir uns freuen sollten. Wir sollten darauf achten, so viel wie möglich auszuprobieren und das Risiko bei jedem Versuch möglichst klein halten. So können wir sicherstellen, dass uns Rückschläge nicht zu hart treffen und uns von positiven Ereignissen überraschen lassen. In einer extremen Welt können nämlich auch diese unverhältnismäßig vorteilhaft ausfallen.

Wie sehr wir von Extremereignissen profitieren können, möchte ich an folgenden vereinfachten Beispielen kurz darlegen: Um erfolgreich zu sein, braucht man keine Prognose. Eine Trefferquote von 50 % (Zufallstreffer) reicht vollkommen aus, solange die Verluste begrenzt und die Gewinne nach oben hin offen sind. In der Finanzbranche gibt es keine Grenze nach oben, ebenso wie bei der Herstellung von Verbrauchsprodukten. Desto mehr Artikel produziert werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, richtig zu liegen. Wenn man richtig liegt, kann ein Vielfaches von dem verdient werden, was investiert wurde. Der Clou dabei ist, dass abhängig von der Größe des Marktes, die Trefferquote auch wesentlich geringer als 50% ausfallen kann und dennoch Profit erwirtschaftet wird. Man ist dann nicht mehr von Prognosemodellen einzelner Produkte abhängig, sondern kann sich auf den Zufall verlassen und von diesem auch profitieren.

Wir müssen uns deshalb mehr auf das konzentrieren, was wir beeinflussen können und das ist nun mal das Risiko und nicht die Zukunft. Wenn man sein Verlustrisiko kennt, weiß man mehr als durch jede Prognose und kann entscheiden, ob man sich auf sein Glück verlässt oder nicht. Genau diesen Blick für die essenziellen Dinge müssen wir wieder finden. Wir müssen bestimmte Theorien zurückbauen und Aussagen von vermeintlichen Experten nicht hinnehmen, ohne deren Evidenz zu prüfen. Unter Umständen hat der Experte nämlich einen falschen Ausschnitt der Realität gewählt, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Umso wichtiger die Entscheidung, desto genauer sollten wir hinsehen und uns nicht durch eine vermeintliche Komplexität abschrecken lassen. Was wirklich zählt ist oft verständlicher als jede noch so hochtrabende Theorie. Um es mit den Worten von Popper zu sagen: „Erkenntnis erlangt man durch Beobachtung der Praxis und nicht durch das Studium von Theorien“. Heute entwickelt man viel zu häufig Theorien und sucht dann erst nach realen Entsprechungen. Durch die Trennung zwischen Strategie und Umsetzung wird dieser Effekt noch verstärkt. Dass hierbei gravierende Schwierigkeiten und Unsicherheiten auftreten, liegt auf der Hand. Der Entstehung „schwarzer Schwäne“ sind dadurch Tür und Tor geöffnet (Taleb: unvorhersehbare Ereignisse mit gravierenden Konsequenzen). Wichtige Entscheidungen müssen daher an der Basis getroffen und nicht von oben herab verordnet werden. Standardabweichungen und schicke Liniendiagramme sollten in so einer Welt keine Rolle spielen.

Lasst uns keine Truthähne mehr sein und glauben, dass der Bauer unser Freund ist, weil er uns großzieht und regelmäßig füttert. Schließlich können wir uns nie sicher sein, ob nicht morgen schon Thanksgiving ist! (Erfahrungen, die auf Täuschungen basieren: Induktionsproblem)