VON ANGELA SCHWEIZER
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04.11.2015 15:59
Was ist die deutsche Leitkultur, und wenn ja, wie viele?
CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer forderte ARD und ZDF auf, einen eigenen Fernsehkanal einzurichten, um Flüchtlingen die deutsche Leitkultur zu vermitteln. Doch dies entspricht weder dem Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Sender, noch ist klar was genau die deutsche Leitkultur überhaupt ist und wie sie vermittelt werden soll.
Rein rechtlich ist der Vorstoß bereits nicht umsetzbar: Ein neuer Kanal könne gar nicht von ARD und ZDF gegründet werden, sondern von den Bundesländern. Außerdem haben die öffentlich-rechtlichen Sender keinen „Erziehungs-, sondern einen Bildungsauftrag“, so Manfred Kloiber, Bundesvorsitzender der Fachgruppe Medien in der Gewerkschaft. Laut dem ARD-Vorsitzenden Lutz Marmor besitzen die meisten Flüchtlinge gar keinen Fernseher und seien am besten über Smartphone erreichbar, daher würden sich die bisherigen Angebote aufs Internet konzentrieren. Auch der Westdeutsche Rundfunk (WDR) strahlt bereits deutsche Lach- und Sachgeschichten auf Arabisch, Kurdisch, Englisch und Darsi für Kinder aus. Doch was genau ist eigentlich die deutsche Leitkultur und wie soll so ein Programm aussehen?
Leitkultur: vom gesellschaftlichen Wertekonsens zum politischen Kampfbegriff
Der Begriff der „Leitkultur“ wurde geprägt von dem Politikwissenschaftler Bassam Tibi, der damit einen gesellschaftlichen Wertekonsens beschrieb, und keine Lebensweise, die die Mehrheitsgesellschaft den Minderheiten aufzwingt. Die Europäische Leitkultur basierte für Tibi auf Werten der kulturellen Moderne, wie Demokratie, Menschenrechte, Aufklärung, Laizismus und Zivilgesellschaft. Seit dem Jahr 2000 wird der Begriff „Leitkultur“ jedoch als politischer Kampfbegriff benutzt. Der damalige Fraktionsvorsitzende der CDU im Bundestag, Friedrich Merz, sprach sich damit für einen Druck zur Assimilierung und gegen die multikulturelle Gesellschaft aus.
Ohne Angst verschieden sein
Warum fällt es uns so schwer, andere kulturelle und religiöse Identitäten zu tolerieren und zu akzeptieren?
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So ließ auch der Spott auf die neueste „Integrationsmaßnahme“ der CSU nicht lange auf sich warten: Unter „
Oans, zwoa, Leitkultur!“ veröffentlichte die taz einen Programmvorschlag, der „typisch deutsche“ Werte, wie Kehrwoche, Gartenzaun und Trinkgelage auf dem Oktoberfest näherbringen könnte. Wie Kultur erklärt Leitkultur nämlich erstmal nichts, sondern muss selbst erklärt werden. Es ist zu befürchten dass es den Kulturwächtern nicht wirklich um Integration geht, sondern darum zu zeigen wer „
Herr im Haus“ ist, um alles beim Alten zu belassen und sich in Zeiten großer gesellschaftlicher Veränderungen nicht selbst verändern zu müssen.
Nicht Leitkultur, sondern Verfassung
Margarete Bause, Grünen-Chefin im Bayrischen Landtag, ist der Meinung, dass es bei der Verwendung des Begriffes „Leitkultur“ nicht um gegenseitigen Respekt gehe, sondern um Unterordnung und Assimilierung. Die Flüchtlinge müssten sich nicht an die Leitkultur halten, sondern
an die deutsche Verfassung. Dies beinhalte Achtung vor der Würde des Einzelnen, Respekt vor Andersdenkenden und Anderslebenden sowie die Religionsfreiheit und Gleichberechtigung. Diese gelte nicht nur für Einwanderinnen und Einwanderer, sondern genauso für die deutsche Bevölkerung, so Bause mit Blick auf Pegida & Co. In der deutschen Gesellschaft dürfen andere auch anders sein. Sie selbst kämpfe seit Beginn ihrer Karriere für die Gleichberechtigung von Frauen.
Auffallend ist, dass sich plötzlich die Parteien und Personen, die sich sonst nicht gerade für die Gleichberechtigung der Frau oder gegen Diskriminierung von gesellschaftlichen Minderheiten innerhalb der eigenen Bevölkerung aussprechen, dem Kampf gegen das Patriarchat bei den Flüchtlingen verschrieben haben.
Warum nicht einmal selbst anfangen, Integration zu leben, anstatt anderen die eigene kulturelle Lebensweise aufzuzwingen? Beispielhaft sei der neugewählte kanadische Premierminister
Justin Trudeau genannt, der ganz selbstverständlich das Fastenbrechen während des Ramadan mit Musliminnen und Muslimen in einer kanadischen Moschee feierte.