VON MAXIMILIAN REICHLIN | 31.05.2016 15:06

Akzeptanz vs. Toleranz – Bedeutet Toleranz eigentlich „Ausgrenzung“?

Akzeptanz und Toleranz sind zwei Begriffe, die im alltäglichen Gebrauch gerne als Synonyme eingesetzt werden. Doch betrachten wir die beiden Worte einmal genauer und sehen uns einige Theorien darüber an, dann stellen wir fest, dass doch eine große Lücke dazwischen klafft. Dann nämlich ist Toleranz eher „Gleichgültigkeit“ oder sogar „Überheblichkeit“, Akzeptanz dagegen ein Akt der Wertschätzung und der Integration. Dann jedoch bleibt die Frage offen, warum wir immer so sehr darauf bedacht sind, tolerant zu sein, wo wir uns doch eigentlich eher in Akzeptanz üben sollten. UNI.DE über eine philosophische Begriffsgeschichte.


Sprachliche Unterschiede: „tolerieren“ = dulden; „akzeptieren“ = „gutheißen“

Toleranz und Akzeptanz sind, einmal nur ihrer sprachlichen Gehalte nach, nicht das Gleiche: Betrachten wir beide Begriffe einmal mit der Lupe: Akzeptanz kommt vom lateinischen „accipere“, was so viel bedeutet wie „gutheißen“ oder „annehmen“. Der deutsche Germanist Günther Drosdowski definierte die Akzeptanz als die Bereitschaft, etwas oder jemanden zu akzeptieren, ein fremdes Gedankengut also im reinen Wortsinne „gutzuheißen“. Toleranz stammt ebenfalls aus dem Lateinischen. Das Verb „tolerare“ bedeutet soviel wie „erdulden“ oder „ertragen“. Hier tut sich bereits ein Unterschied der Bedeutungen auf: Während etwas „gutzuheißen“ ein aktiver Vorgang ist, erscheint das „erdulden“ eher passiv, so als könne man sich ohnehin nicht dagegen wehren, was da auf einen zukommt.

Da enden die Unterschiede aber noch nicht. Auch die Konnotation spielt eine gewichtige Rolle. Wenn wir sagen, wir „dulden“ etwas oder irgendjemand sei „geduldet“, ist das selten etwas Gutes. Vielmehr nehmen wir dabei eine Wertung vor, die Ausgrenzung schwingt bereits im gesprochenen Wort mit. So sagen wir also nicht: „Ich stehe hinter dir und befinde deine Anwesenheit für gut“, sondern: „Ich weiß, dass du nicht hierher gehörst, aber da ich nichts dagegen tun kann, dulde ich es.“ Möglicherweise sprechen wir auch von oben herab, mit Mitleid oder einem falschen Gefühl von Großzügigkeit: „Ich weiß, dass du nicht hierher gehörst, aber ich dulde dich dennoch. Bin ich nicht barmherzig?“ Letzten Endes muss der Geduldete dem Duldenden dann auch noch dankbar sein.

Von „erlauben“ bis „wertschätzen“ - Die Dimensionen der Toleranz nach Rainer Forst

Rainer Forst, ein deutscher Politikwissenschaftler und Philosoph, umfasst die Toleranz in vier unterschiedlichen Konzeptionen: Die Erlaubnis- und die Koexistenz-Konzeptionen sind dabei von einem erkennbaren Pragmatismus geprägt: Hier werden Minderheiten (Erlaubnis) oder gleichstarke Gesellschaftsgruppen (Koexistenz) geduldet, weil sie entweder keine Gefahr für das vorherrschende Machtgefüge darstellen, oder das „geringere“ Übel sind. Toleranz in reiner Form.

Forsts andere Konzeptionen, die Respekt-Konzeption und die Wertschätzungs-Konzeption, haben diese Sphäre der „Duldung“ bereits verlassen, denn in diesen beiden wird das fremde Gedankengut anderer Gesellschaftsschichten nicht nur toleriert, sondern aktiv akzeptiert. In der einen betrachtet ein nach Forst „toleranter“ Mensch seine Mitmenschen als rechtlich und politisch gleichgestellt, in der anderen schätzt er sogar die Errungenschaften, die das fremde Gedankengut der eigenen Gesellschaft einbringen kann.

Schädliche Außeneinwirkungen und falsche Messungen: Toleranz in Medizin und Technik

Noch eklatanter wird der Unterschied zwischen Toleranz und Akzeptanz, wenn wir die Begriffe technisch fassen. In der Medizin etwa ist die „Toleranz“ laut Duden die „begrenzte Widerstandsfähigkeit des Organismus gegenüber schädlichen äußeren Einwirkungen“. Und viele Naturwissenschaften arbeiten mit einem sogenannten „Toleranzbereich“; also einem fest abgesteckten Feld, in dem „falsche“ Zahlen und Messungen gerade noch so geduldet werden können, ohne eine Normabweichung zu sein.

Akzeptanz weiß in ihrem strengen Wortsinne nichts von solchen „Bereichen“, sie ist einfach da oder nicht. Und sie ist zudem meistens positiv konnotiert, es ist also besser, etwas zu akzeptieren, als es nicht zu tun. Nicht ohne Grund ist „Akzeptanz“ daher auch der Name des letzten Stadiums der Trauer: Erst wenn sich diese eingestellt hat, können Herz und Verstand heilen und der trauernde Mensch wieder zur Normalität zurückkehren.

Start mit Hindernissen

Toleranz in der Gesellschaft: Propagieren wir falsche Werte?

Akzeptanz bedeutet also aktive Gleichberechtigung, Toleranz bedeutet passive Ausgrenzung. Gerade im Hinblick auf die aktuellen Probleme unserer Zeit ist dieser sprachliche Unterschied nicht eben irrelevant: Zu sagen, ein Flüchtling sei in unserem Land „geduldet“ ist nicht das gleiche, wie ihn und die mitgebrachten Kulturunterschiede zu „akzeptieren“. Dennoch ruft die Pro-Flüchtlingsfraktion ungebrochen nach mehr „Toleranz“, nicht nach mehr „Akzeptanz“. Im vergangenen März trafen sich tausende Menschen bei einem Flashmob in Mainz und sangen für die Toleranz, im letzten Jahr veranstaltete das deutsche Bündnis für Demokratie und Toleranz einen Wettbewerb zum Thema, und so weiter und so fort. Warum ist das so?

Natürlich könnte man das alles auf Unkenntnis zurückführen. Schon die Online-Enzyklopädie Wikipedia weiß bereits, dass mit „Toleranz“ im alltäglichen Sprachgebrauch eher die „Anerkennung einer Gleichberechtigung“ gemeint ist, nicht mehr die ursprüngliche „Duldung“. Und wir freuen uns ja auch darüber, dass unsere heutige Jugend, die sogenannte „Generation Mainstream“ so tolerant ist, wie schon lange nicht mehr. Aber was wollen wir damit eigentlich sagen? Dass unsere Jugend gezielt aktive Akzeptanz übt, oder, dass sie mittlerweile gleichgültig geworden ist, was Andersartigkeit anbelangt. Und was von beidem wäre eigentlich mehr wünschenswert?

Ein Aufruf zu mehr Akzeptanz

Wenn wir eines aus der immer noch aktuellen Feminismus- und Gender-Debatte gelernt haben, dann doch, dass sich Unterdrückungsmuster bereits in der Sprache manifestieren können. Deswegen schreiben wir heutzutage nicht mehr an den „Lieben Leser“, sondern an die „Liebe Leserin und den lieben Leser“, und deswegen sollten wir uns möglicherweise, wenn wir wirklich tolerant sein wollen, stattdessen auf „Akzeptanz“ einigen. Denn fördern wollen wir ja nicht das Vermögen der eigenen Mitmenschen, über offensichtliche Schwächen des fremden Gedankenguts „hinwegzusehen“, sondern es anzunehmen, daraus zu lernen, damit in Dialog zu treten. Auf der anderen Seite: Vielleicht sind wir ja zu einem solchen Austausch auch noch gar nicht fähig. Vielleicht ist die viel geforderte Toleranz der derzeit einzig mögliche Schritt auf einem Weg, der uns schlussendlich zur Akzeptanz führen wird.