VON MAXIMILIAN REICHLIN | 22.09.2014 13:20

Wissen, Wahrheit und Gewissen

Die Wahrheit ist für die Philosophie schon lange ein Rätsel. Verschiedenste Denker verschiedenster Epochen haben die Wahrheit und ihr Verhältnis zum Wissen völlig unterschiedlich interpretiert. Und noch immer sind wir der „Wahrheit“ keinen Schritt näher. Gibt es so etwas wie die „letzte Wahrheit“ überhaupt? Oder können wir uns immer nur annähern? UNI.DE begibt sich auf eine philosophische Suche.


Gewissheit, so sagt man, ist eine Illusion. Selbst die Wissenschaft hat es nicht immer mit objektiven Wahrheiten zu tun. Auch hier können nur Vermutungen angestellt und Schlüsse gezogen werden. Hinterher hat man im besten Fall gut geraten, im schlimmsten Fall kommen Menschen zu Schaden. So berichtete der Focus im vergangenen Jahr von mehreren Fällen ärztlicher Fehldiagnosen, mit teilweise katastrophalen Folgen. Hier wurden Hirntumore als Depressionen, Krebs als hormonelle Störung diagnostiziert.

Ein weiterer aufsehenerregender Fall ereignete sich im Juni 2012 in Gurtnellen in der Schweiz: Hier kam ein Bergarbeiter bei einem Felssturz ums Leben, zwei weitere wurden verletzt. Der Grund: Geologen hatten bereits im März eine Verschiebung der Felswand entdeckt, die bereits zu kleineren Stürzen geführt hatte. Für eben den Abschnitt der Felswand, an dem das Unglück schließlich passierte, stellten sie allerdings eine Unbedenklichkeitsbescheinigung aus. Eine Fehleinschätzung mit tödlichen Folgen.

Wissen und Wahrheit sind also selten ein und das selbe. Was wir wissen, haben wir gelernt. Das ist auch gut so, denn ein umfangreiches Welt-Wissen hilft uns, die Welt zu verstehen und zu erklären. Schon für Aristoteles war die Wahrheit nichts anderes als das, worin genügend Menschen übereinstimmen, was von genügend Menschen als „wahr“ akzeptiert wird. Aber diese Definition ist trügerisch. So haben Menschen lange Zeit über gewusst, dass die Erde keine Kugel ist, sondern flach. Später meinten die Menschen zu wissen, dass sich die Sonne um die Erde dreht und nicht andersherum.

Optische Täuschungen

Heute wissen wir, dass wir mit dem Wissen vorsichtiger umgehen müssen. So veränderte sich auch der Wahrheitsbegriff: Kant oder Hegel etwa erkannten die „Übereinstimmung von Wissen und Seiendem“ als wahr, also: Wenn das, was wir wissen, sich mit dem, was ist, deckt, so gelangen wir zur Wahrheit. Doch das setzt voraus, dass wir das, was ist, auch kennen. Das tun wir in den seltensten Fällen. Wenn wir sagen, wir handeln „nach bestem Wissen und Gewissen“, meinen wir damit: Wir haben so gehandelt, wie es die Situation gebot, weil wir anhand der verfügbaren Informationen kaum eine andere Möglichkeit hatten. Damit tragen wir schon der Möglichkeit Rechnung, dass sich unser Handeln im Nachhinein als falsch herausstellen könnte, dass wir die Situation möglicherweise falsch eingeschätzt haben. Wir haben uns eben verkalkuliert. Und das passiert häufiger, als uns lieb ist.

Das Ergebnis ist die Angst vor Fehlentscheidungen. Risikoforscher Gerd Gigerenzer spricht bereits von einer „Absicherungskultur“. Da wir nicht in der Lage sind, letzte Gewissheit über einen Sachverhalt zu verlangen, versuchen wir also, uns vor den möglichen Folgen unserer Handlungen zu schützen, wir werden defensiver. Das sei allerdings der falsche Weg: „Für kleine Kinder ist es natürlich wichtig, sich sicher zu fühlen. Wenn man erwachsen wird, sollte man aber lernen, Risiken in die Augen zu schauen.“ Denn schließlich macht ja auch das die Suche nach der Wahrheit letztlich aus, dass wir Risiken eingehen und aus Fehlern lernen. So sah es auch der irische Schriftsteller Samuel Beckett: „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“