VON MAXIMILIAN REICHLIN | 23.08.2016 17:04

Werte und Wertewandel – Gesellschaft und Mensch im Fluss

Was uns als Gesellschaft ausmacht, welche Ziele wir verfolgen und welche Ideale wir hochhalten: Das alles sind Werte. Diese sind aber nicht unveränderlich, sondern befinden sich ständig im Fluss. Dieser Wertewandel äußert sich vor allem in der Bildung von Wertetypen oder Milieus, die heute von einer starken Ambivalenz geprägt sind. UNI.DE verfolgt den Wertewandel in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nach und klärt die Frage, was wir heute noch wertschätzen – und ob möglicherweise unsere Freiheit, alte Werte zu verwerfen, der zentrale Wert unserer heutigen Gesellschaft ist.

Werte sind das Salz in der Suppe einer modernen Gesellschaft. Werte definieren, wonach wir als Gesellschaft, aber auch als Einzelne, streben und welche Ziele wir im Leben verfolgen. Streben wir vor allem nach Besitz, Wohlstand und Ordnung? Oder suchen wir das Risiko, streben nach Selbstverwirklichung und glauben an non-konforme Ideale? Der gesellschaftliche Wertekanon ist einem ständigen Wandel unterworfen und wird immer komplexer und umfangreicher. Werte, die noch vor einigen Jahren als zentral galten, müssen heute nicht mehr für jeden verbindlich sein. Als Wertewandel bezeichnet man diese Entwicklung – einige sprechen sogar kritisch vom Werteverfall. Die Soziologie beschäftigt sich bereits lange mit dem komplizierten Begriff der Werte und kennt auch die Gründe für den Wertewandel.

Erziehung und Mangelerfahrung als Grundlage des Wertewandels

Die menschliche Persönlichkeitsentwicklung ist stark von den übernommenen Werten in der Kindheit geprägt. In welche Schicht, beziehungsweise welches Milieu ein Kind hineingeboren wird, und welche Werte die Eltern vorleben definiert zu einem großen Teil, wie wir uns entwickeln und welche Werte wir selbst im Erwachsenenalter verfolgen und verteidigen. Welche Werte eine Gesellschaft für sich als die zentralsten und wichtigsten ansieht, ist in einer Art Wertekanon gebündelt. Dieser ist aber nicht unveränderlich, sondern unterliegt einem stetigen Wandel. In Deutschland hatten vor allem die Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die zunehmende Globalisierung und die Entwicklungen des 21. Jahrhunderts Einfluss auf das, was wir als Gesellschaft wertschätzen.

Der amerikanische Soziologe Ronald Inglehart geht davon aus, dass zwei Aspekte besonders auf die Bildung und Entwicklung von Werten Einfluss haben: Erstens der Mangel. So hat der Mensch grundsätzlich immer das stärkste Bedürfnis nach einem Gut, wenn dieses im Moment nicht oder nur knapp verfügbar ist. Zweitens fußen Ingleharts Theorien auf der Annahme, dass Werte vor allem in der Kindheit ausgeprägt werden, und dann so gut wie unveränderlich sind. Vor allem das Elternhaus und das familiäre Umfeld haben einen entscheidenden Einfluss darauf, was wir wertschätzen und welche Ziele wir im Leben verfolgen.

Wertewandel nach dem 2. Weltkrieg: Von materialistischen zu postmaterialistischen Werten

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges etwa waren vor allem materialistische Ziele vertreten: Besitz, Wohlstand, der Wunsch nach Ordnung und Beständigkeit. Einen nicht unerheblichen Anteil an dieser Entwicklung hatte wohl die Einführung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems sowie die Übernahme der Demokratie. Schon in den Folgegenerationen des deutschen Wirtschaftswunders erleben wir allerdings wieder einen Wertewandel: Da das Bedürfnis nach Besitz größtenteils befriedigt ist und die neuen Generationen in den Wohlstand hineingeboren werden, werden neue Ideale wichtig, wie Selbstverwirklichung und Kommunikation. Diese sogenannten postmaterialistischen Werte prägen die Generationen bis in die 90er-Jahre hinein

Das 21. Jahrhundert: Globalisierung schafft komplexe Wertehybride

Mittlerweile hat sich der Unterschied zwischen den materialistischen und den postmaterialistischen noch weiter aufgefächert. Nach dem deutschen Soziologen Helmut Klages lassen sich heute grob fünf Wertetypen ausmachen: Die aktiven Realistischen, die Konventionalistischen, die non-konformen Idealistischen, die perspektivenlos Resignierten sowie die hedonistischen Materialistischen. Die Zuordnung zu diesen Milieus kennzeichnet, welche Ideale einem Menschen im Leben besonders wichtig sind. Für die Konventionalistischen sind das beispielsweise der Wunsch nach Ordnung und die Ablehnung rascher Veränderungen; die Idealistischen hingegen streben nach der Durchsetzung ihrer Ideale und sind von starker Frustration ob der Ist-Situation in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft geprägt.

Unterordnung und Assimilierung

Einen „Wertewandel“, das bedeutet eine Bewegung weg von einem zentralen Wert hin zu einem anderen, gibt es im Grunde kaum mehr. „Das 21. Jahrhundert orientiert sich komplexer, nämlich an ambivalenten Werten“, so der Berliner Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz. Er spricht von „Wertehybriden“, und meint damit, dass mittlerweile sehr viele verschiedene Wertetypen miteinander im Widerstreit stehen oder sich gegenseitig beeinflussen. Zentrale Werte unserer Gesellschaft, wie Freiheit, Familie, Erfolg oder Selbstverwirklichung sind bei jeder Gruppe und jedem Typen unterschiedlich gewichtet und werden (mal mehr, mal weniger) wertgeschätzt.

Selbstbestimmung als zentrales Ideal?

Was wir also als Wert betrachten, entscheidet heute jeder für sich selbst. Einen verpflichtenden Kanon gibt es kaum noch – Stichwort: Werteverfall. Doch selbst dieser Verfall alter Ideale ist nicht per se ein Negativtrend, sondern selbst auch ein Aspekt des Wertewandels. Wo vor einigen Jahrzehnten das System noch starr und gruppenorientiert war, erleben wir heute eine stark individualistische Wertebildung, die auf Selbstverwirklichung beruht. So nehmen sich die „Alten“, die Konventionellen das Recht heraus, sich dem Wandel zu verweigern und den Trend nicht mitzumachen, während die „Jungen“ ebenso das Recht zu haben glauben, alte und überkommene Ziele zu hinterfragen. Möglicherweise ist diese Selbstbestimmung im Wertekomplex ja der zentrale Wert unserer modernen Gesellschaft.