VON CLEMENS POKORNY | 22.04.2014 17:09

Sehen heißt glauben: Wenn die Gondeln Trauer tragen

Wie wohl kaum ein anderer Film thematisiert Nicolas Roegs „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ das Thema Sehen. Es erscheint ambivalent: Was der Protagonist John sieht – etwa die leitmotivisch durch Venedig laufende kleine Gestalt im roten Regenmantel –, scheint die Grenzen des rational Fassbaren zu sprengen. Noch mehr gilt das für eine andere Figur, die als Blinde mehr sieht als alle anderen, weil sie Kontakt zu Verstorbenen herstellen kann. Roegs Figuren sehen auch, wovor sie Angst haben oder wonach sie sich sehnen – doch es gereicht ihnen nicht zum Vorteil.


„Sehen heißt glauben.“ Mit diesem Satz bestätigt John seiner Frau Laura, dass er sie für gesund hält, weil er sieht, wie gut sie sich fühlt. Sehen, so könnte man es auch formulieren, ist unsere wichtigste Wahrnehmungsfähigkeit. Was wir sehen, glauben wir daher – eine Tatsache, derer sich Zauberkünstler bedienen und Schauspieler, letztlich alle Menschen, die Anderen etwas glauben machen, indem sie ihnen etwas vorspielen, was gar nicht der Fall ist.

Auch der Filmregisseur Nicolas Roeg tut das in seinem Meisterwerk „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ (1973) nach dem gleichnamigen Roman von Daphne du Maurier. Während seine Kinder im weitläufigen Garten spielen, betrachtet John (Donald Sutherland) Dias aus einer venezianischen Kirche. Auf einem davon sieht man in der vordersten Reihe der Kirchenbänke eine kleine Gestalt in einer roten Kapuze sitzen. Auf dem Dia zerläuft plötzlich die rote Farbe dieses Mantels. John assoziiert das Bild mit seiner Tochter, sieht vor seinem inneren Auge seinen Sohn zu ihr laufen und läuft offensichtlich mit einer dunklen Vorahnung in den Garten. Doch Christine ist bereits im Weiher ertrunken, gekleidet in ihren glänzenden roten Regenmantel.

In Venedig, wo John im Auftrag des Bischofs eine Kirche restauriert, begegnen Laura (Julie Christie) zwei ältere schottische Schwestern. Eine davon, Heather, ist blind, hat aber das Zweite Gesicht: Sie versichert Laura, dass ihre Tochter Christine zwischen John und Laura am Restauranttisch sitze, sieht sogar die rote Jacke des Mädchens. Als Laura John von Heathers Vision erzählt, hält er sie zunächst für geistig verwirrt. Doch der Augenschein bestätigt ihm letztlich, dass es ihr gut geht. In einer der berühmtesten Sexszenen der Filmgeschichte manifestiert sich die Liebe der beiden. Roeg vermischt Bilder des Liebesaktes und des Anziehes danach miteinander und schafft damit nicht nur eine völlig neue, anti-voyeuristische Ästhetik, die der Szene eine enorme Dynamik verleiht, sondern zeigt symbolisch auch, wie kurz das Glück der Liebenden ist.

Abends hört John unterwegs einen Schrei und sieht daraufhin eine kleine Gestalt im roten Regenmantel in einiger Entfernung davonlaufen. In Lauras Gegenwart erfährt Heather in Trance, dass John in Gefahr ist – und tatsächlich gerät dieser in eine brenzlige Situation, als er nach Laura sehen will und für einen Einbrecher gehalten wird. Solange er in Venedig bleibt, ist sein Leben in Gefahr, wie Christine Heather mitgeteilt hat. Als er in der Kirche aus luftiger Höhe fast zu Tode stürzt, scheint sich Heathers Warnung zu bestätigen. Um sich abzulenken, geht John mit dem Bischof spazieren und wird zum zweiten Mal in Venedig Zeuge der Bergung einer Leiche aus einem Kanal. Auf dem Weg in ein neues Hotel hat John selbst eine Vision: Er sieht seine Frau mit den beiden Schwestern auf einem Bestattungsschiff stehen, das an seinem Vaporetto vorbeifährt – aber Laura ist gerade erst nach London geflogen! Wieder sieht John die Gestalt im roten Regenmantel, assoziiert sie mit Christine.

Am Abend, John hat gerade die Schwestern verlassen, erlebt Heather erneut eine Vision. Sie fleht ihre Schwester an, John zurückzuholen. Auch Laura, gerade aus London zurückgekehrt, ist auf der Suche nach John. Dieser trifft wieder auf die rot gekleidete Gestalt, doch dieses Mal gelingt es ihm, ihr zu folgen. Während Laura vergeblich versucht, ihren Mann zurückzuhalten, stellt John die rote Gestalt in einem verlassenen Palazzo...

Von den beiden Hauptdarstellern abgesehen ist jede der Figuren des Films verdächtig gezeichnet: der merkwürdige Bischof, in dessen Schlafzimmer eine rote Kerze brennt wie ein Grablicht auf einem Friedhof; der zwielichtige Chef des Hotels; die schottischen Schwestern und der Kriminalkommissar, der nach Laura suchen soll. Je weiter der Film voranschreitet, desto unheimlicher wird er. Niemandem ist zu trauen. Die kleine Gestalt im Regenmantel, die durch Venedig läuft, bildet den sprichwörtlichen roten Faden des Films, zitiert unter anderem in der Verfolgungsjagd in „Casino Royale“ (2006). Roegs triste spätherbstliche Lagunenstadt verströmt mit ihren Bilder besser als eine offensichtliche literarische Inspirationsquelle von du Mauriers Erzählung, nämlich Thomas Manns „Der Tod in Venedig“, das Morbide, Fassadenhafte und Beängstigende dieses Ortes. Und John irrt sich, wenn er seine Frau für verrückt hält. Er selbst sieht Dinge, die nicht wirklich sind, doch seine Visionen sind in einer übernatürlichen Dimension wahr. Weil er sehen mit glauben gleichsetzt, muss John sterben. Denn obwohl er Laura immer wieder erklärt, dass Christine tot ist und nicht mit Heather in Verbindung treten kann, hält er offenbar selbst die Gestalt in der roten Kapuze für seine Tochter. Darauf verweist auch der Originaltitel des Films: „Don't look now“. Unsere Ängste beeinflussen was wir sehen, und gerade weil John mehr sieht, als er sollte, kann er nicht sehen, in welche Gefahr er sich begibt. Im alptraumhaften Finale des Films verschwimmen die Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit, und erst im Tod sieht John endlich klar, nimmt die verborgenen Zusammenhänge zwischen den Ereignissen wahr, die er in den vergangenen Wochen erlebt hat. Damit räumt „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ zwar einer metaphysischen Perspektive auf unsere Welt einen Platz ein. Doch diejenigen, die mehr sehen als andere, können den Lauf der Dinge auch nicht abändern.