VON LISI WASMER | 21.03.2014 13:12

Die Sperrklausel im Bundestag – Stabilität oder Freiheitseinschränkung?

Die Bundestagswahl im September 2013 sorgte in vielerlei Hinsicht für Aufsehen. Nicht nur, dass die CDU/CSU fast drei Monate benötigte, um letztlich eine gemeinsame Regierung mit der SPD zu gründen. Ihrem Wahltriumph stand auch die krasse Niederlage des ehemaligen Koalitionspartners FDP entgegen: Er scheiterte knapp an der Sperrklausel. Eben diese führte außerdem dazu, dass jeder siebte Wähler seine Zweitstimme einer Partei gab, die heute nicht im Bundestag sitzt. Nun stellt sich die Frage: Zeigt der Verfall so vieler Stimmen, dass die Sperrklausel „undemokratisch“ und damit verfassungswidrig ist?


Seit über 40 Jahren ist die Sperrklausel, auch Fünf-Prozenthürde oder Quorum genannt, gängige Praxis in allen Bundestagswahlen der Bundesrepublik Deutschland. Auch international hat sie sich vielerorts etabliert. Vor allem seit den letzten Wahlen im September 2013 wird sie aber von Politikern wie auch Rechtswissenschaftlern als undemokratisch, wenn nicht gar verfassungswidrig kritisiert. Wieso gibt es aber überhaupt eine Sperrklausel, warum steht sie heute in der Diskussion und was hat das Ganze eigentlich mit den Europawahlen zu tun?

Direkte Demokratie - Europas Zukunft?

Vom „Was“ zum „Wieso“

Von der Fünf-Prozent-Hürde hat man schon einmal gehört. Im Sozialkundeunterricht in der Schule, oder vom Geschichtslehrer im Zusammenhang mit der Weimarer Republik. Dieses deutsche Regierungskapitel wird häufig auch herangezogen, um die Einführung der Sperrklausel zu rechtfertigen (erstmals angewandt wurde sie in ihrer heutigen Form 1953). Das Prinzip: Parteien, die bei einer Wahl zum Bundestag weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erhalten, dürfen nicht ins Parlament einziehen, das heißt, sie haben keine Sitze im Bundestag. Von dieser Regelung sind alle Parteien ausgenommen, die in mindestens drei Wahlbezirken im Vergleich zu anderen Parteien die meisten Erststimmen erhalten, die also Direktmandate gewinnen. In diesem Fall werden ihre Zweitstimmen berücksichtigt, andernfalls verfallen sie.

Ziel dieser Regelung ist es, eine allzu starke Zersplitterung des Parlaments zu verhindern, denn: Besteht eine Regierung aus vielen kleinen Parteien, ist es weitaus schwieriger, vor allem in tendenziell problematischen Fragen einen Konsens zu erringen. Die Regierungsarbeit wird somit erschwert. Beispielhaft wird hier gerne auf die Weimarer Republik als Exempel für die erste gescheiterte Demokratie Deutschlands verwiesen (im Vergleich zu heute vier waren damals bis zu neun Parteien im Parlament vertreten), wofür lange Zeit regelmäßig auf die Parlamentszersplitterung als Ursache zurückgegriffen wurde. Denn das damals herrschende Verhältniswahlrecht war nicht wie heute durch eine Sperrklausel reglementiert. Zwar wird die starke Parteienvielfalt heute nicht mehr als alleinige Ursache für den Untergang der Weimarer Republik bewertet, wie beispielsweise der Wahlforscher Dieter Nohlen konstatiert, dennoch gibt es auch einen anderen Grund, an der Fünf-Prozenthürde für Bundestagswahlen festzuhalten. Denn es besteht der Grundsatz, dass für den Einzug einer Partei ins Parlament der ausdrückliche Wählerwille vorliegen muss. Und von einem solchen wird derzeit eben dann ausgegangen, wenn eine Partei mindestens fünf Prozent aller Zweitstimmen erhält.

Die Sperrklausel und die Europawahl

Die Debatte um die Quore für die Bundestagswahl fand neuen Auftrieb, als das Bundesverfassungsgericht die derzeit geltende Drei-Prozent-Hürde für die Europawahl in Deutschland im vergangenen Februar als verfassungswidrig erklärt hat. Grundlage ist die im Grundgesetz festgeschriebene Eigenschaft von Wahlen als gleich, geheim und vor allem frei. Denn durch die Nicht-Berücksichtigung etwaiger Zweitstimmen von Parteien, die an der Sperrklausel scheitern, verfielen derartig viele Wählerstimmen, dass von einer Verzerrung der Wahlergebnisse ausgegangen werden müsse.

Nun stellt sich die Frage, inwieweit diese Entscheidung auf die Fünf-Prozent-Hürde für Bundestagswahlen übertragen werden kann, beziehungsweise ob sich eine Herabsetzung, wenn nicht gar Abschaffung der Quore eher Demokratie-förderlich oder –gefährdend auswirken würde.

Vom Vorhersehbaren zum Kern der Debatte

Verschafft man sich einen Überblick über Befürworter und Gegner der Fünf-Prozent-Hürde, ist die Zusammensetzung der beiden Lager nicht weiter verwunderlich. Halina Wawzyniak, Wahlrechtsexpertin der Linken, wetterte bereits gegen die Sperrklausel für die Europawahl. Die sozialistische Tageszeitung „Neues Deutschland“ zitiert sie jetzt auch allgemeiner mit den Worten: „Sperrklauseln gehören abgeschafft“. Auch dem Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele ist die derzeit geltende Quore ein Dorn im Auge. Im Gespräch mit der „Welt“ kritisiert er die Regelung als „undemokratisch“, er plädiert für eine Absenkung auf drei Prozent: „So könnte man ausprobieren, ob das wirklich zu Instabilität und ständigen Regierungswechseln führt“. Naturgemäß anders sieht das beispielsweise der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, der an der Sperrklausel von fünf Prozent festhalten möchte, um die „Funktionsfähigkeit“ der Regierung nicht zu gefährden, wie es im selben Artikel heißt.

Abgesehen von den hier angesprochenen Politgrößen befassen sich aber auch externe Experten mit der Frage, inwiefern eine Aufrechterhaltung der Sperrklausel legitim und sinnvoll ist. Der Rechtswissenschaftler Ulrich Battis etwa sieht keine Notwendigkeit für eine derartige Quore. Er verweist auf die 2013 besonders hoch ausgefallene Anzahl verfallener Zweitstimmen und die damit für ihn erwiesene Verzerrung des Wahlergebnisses. Eine Drei-Prozent-Hürde hält er für ausreichend, die Absenkung der Quore für ein „Mittel für mehr Wahlgerechtigkeit, mehr Chancengleichheit und gegen Wählerverdruss“.

Gegenwind erhält er wiederum vom bereits erwähnten Politikwissenschaftler Dieter Nohlen: Die Statistiken der vergangenen Bundestagswahl müssten als Beleg dafür gesehen werden, dass die parteipolitischen Verhältnisse derzeit instabil zu werden drohen oder es sogar bereits sind. Gerade in solchen Zeiten würden Sperrklauseln aber eben auch ihren eigentlichen Zweck erfüllen, die Auswirkung solcher Tendenzen auf die Zusammensetzung des Parlaments und damit auf die Arbeitsfähigkeit der Regierung einzuschränken. Er verweist außerdem auf die zahlreichen Möglichkeiten für Parteien, auch ohne Sitz im Bundestag, beispielsweise über Medienauftritte, dennoch an der öffentlichen Debatte teilzunehmen.

Egal, auf welcher Seite man sich mehr zu Hause fühlen möchte: Die Abschaffung oder Erhaltung der Fünf-Prozent-Hürde scheint eine Gretchenfrage zu bleiben. Auf der einen Seite stehen fast sieben Millionen Zweitstimmen für Parteien, die heute nicht im Bundestag vertreten sind. Auf der anderen Seite steht die funktionierende Entscheidungsfindung zwischen den „nur“ vier Parteien im Parlament. Ganz zu schweigen von etwaigen Schwierigkeiten, die durch den Aufstieg von kleineren Parteien mit eventuell ebenfalls verfassungsgefährdenden Programminhalten entstehen könnten, sollte die Fünf-Prozent-Hürde tatsächlich herabgesetzt werden (man denke etwa an die NPD). Inwieweit es Aufgabe der Rechtsprechung ist, solche Gefahren bereits im Vorfeld abzuwenden, bleibt abzuwägen.