VON MAXIMILIAN REICHLIN | 11.07.2015 16:39

Selbstzensur durch Überwachung – Der Artikel, den gerne jeder mitlesen darf

Dass unsere Daten jeden Tag, rund um die Uhr und von verschiedensten Personen und Institutionen ausgespäht werden könnten, ist für uns keine Neuigkeit mehr. Viel interessanter ist, wie das Wissen um die Überwachung unser Verhalten verändert, etwa im Internet oder am Telefon. Studien haben ergeben, dass wir vorsichtiger werden, uns weniger auffällig verhalten – wir betreiben Selbstzensur. Ich gehe der Frage nach, woher dieser sogenannte Chilling-Effekt stammt und wo er uns hinführen könnte. Und ob wir nicht einfach mal wieder lernen sollten, wie man Bomben bastelt.

Wieder einmal ist eine Mail meines Chefredakteurs in meinem Postfach gelandet. Ich soll einen Artikel schreiben, über die Selbstzensur in Zeiten digitaler Überwachung. Das macht mich einigermaßen stutzig. Selbstzensur? Reicht es denn nicht aus, dass jeden Tag unsere Daten per E-Mail, SMS, Facebook, Skype, Twitter und Co. ausgespäht werden, dass Unternehmen, Staaten und gegebenenfalls Cyber-Kriminelle durch Massenüberwachung bald mehr über uns wissen, als unsere besten Freunde; müssen wir uns jetzt auch noch selbst zensieren? Snowden musste sich mit Sicherheit nicht selbst darum kümmern, dass ihm der Mund verboten wird. Das erinnert mich an einen alten Witz. Sagt der Grenzbeamte zum ankommenden Flüchtling: „Können Sie sich ausweisen?“ Antwortet der Flüchtling: „Ich dachte, das sei euer Job!“

Der Freedom Act

Ich recherchiere also. In der letzten Zeit habe ich einiges über die Möglichkeiten digitaler Überwachung geschrieben, und kenne mich dahingehend mittlerweile relativ gut aus. Ich weiß vom Staatstrojaner des BKA. Ich kenne Software, die meine Skype-Telefonate mitschneiden kann. Und so weiter. Was ich nicht wusste: Wie diejenigen, die diese Fakten kennen, auf die Überwachung reagieren. Nämlich nicht mit Protestaktionen, sondern indem sie sich einschränken. Der sogenannte Chilling-Effekt tritt ein, wenn Menschen sich überwacht fühlen. Sie verhalten sich dann vorsichtiger und vermeiden von vorne herein jedes Verhalten, das einem möglichen digitalen Beobachter auffällig erscheinen könnte. Der Wunsch nach Selbstschutz führt zur Selbstzensur.

So gaben in einer Umfrage der norwegischen Datenschutzbehörde NDPA 16 Prozent der Befragten an, seit der Snowden-Aufdeckung problematische Suchanfragen im Internet zu vermeiden, um sich vor etwaigen Konflikten zu schützen. Ich selbst erinnere mich daran, dass ich vor einiger Zeit einen Artikel über das „Darknet“, beziehungsweise den Tor-Browser geschrieben habe, der von investigativen Journalisten, Whistleblowern aber eben auch von Kriminellen benutzt wird, um digitale Spuren zu verwischen. Schon damals dachte ich: Wenn die NSA von meiner Recherche Wind bekommt, haben sie mich bestimmt auf dem Kieker. Mein Mitbewohner macht bis heute Witze darüber, dass es nur eine Frage der Zeit sein kann, bis die zuständigen Behörden unsere Wohnungstür eintreten.

Viel weitreichendere Folgen hat der Chilling-Effekt allerdings auf die Meinungs- und Pressefreiheit. Eine weitere Umfrage des US-Literaturverbandes PEN unter rund 500 Schriftstellerinnen und Schriftstellern hat ergeben, dass jeder Sechste vermeidet, bestimmte Themen in seinen Büchern anzuschneiden, fast ein Viertel der Befragten zensiert sich darüber hinaus am Telefon oder in E-Mails. Und eine Studie der Columbia University und des MIT Media Lab ergab, dass Menschen, die über sensible Informationen verfügen, mittlerweile signifikant seltener gewillt sind, damit an die Presse zu gehen.

Wo führt uns diese Entwicklung hin? Werden wir uns bald, aus Angst vor der Überwachung, nicht mehr trauen, das Anarchistische Kochbuch bei Amazon zu bestellen? Punks oder Kiffer zu unseren Freunden zu zählen? Am Telefon über die Machenschaften der NSA zu diskutieren? Oder mit geheimen Dokumenten an die Öffentlichkeit zu gehen, um einen weltweiten Eklat auszulösen? Wir sollten darüber nachdenken, ob wir das so hinnehmen wollen. Bekämpfen wir den Chilling-Effekt und die Selbstzensur doch gemeinsam, indem wir einfach mal wieder googeln, wie man sich privat eine Bombe bastelt. Nur so, zum Spaß. Und unseren diversen Mitleserinnen und Mitlesern hinterlassen wir dabei noch einen schönen Gruß. Frei nach dem Motto: „Können Sie sich zensieren?“ Nein. Das ist immer noch euer Job.