VON CHARLOTTE MEYER
|
06.07.2015 17:20
Meinungsfreiheit und gesellschaftliche Tabus – kein einfaches Verhältnis
„Über Geld und Politik redet man nicht“, lautet eine alte Regel. Was dahinter steckt, liegt auf der Hand: Die Vermeidung von Provokation und Streit in einer Gruppe. Obwohl das Recht auf Meinungsfreiheit durch das Grundgesetz in Deutschland garantiert ist, gibt es Themen, die besser nicht angesprochen werden, wenn man es sich nicht mit den Nächsten verscherzen will. Dass neben dem Gesetz vor allem gesellschaftliche Tabus die eigene Meinungsäußerung regeln, wissen wir alle. UNI.DE hat noch einmal genauer hingeguckt.
Meinungsfreiheit durch Tabus begrenzt
In einer Umfrage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus dem Jahr 2013 ging hervor, dass mehr als ein Drittel der Befragten glauben, man könne in Deutschland seine Meinung nur mit Einschränkungen preisgeben. Auf die Frage, welche Themen besonders heikel seien, nannte die Umfrage damals Geschlechterrollen und Einwanderung. Diese Logik ist seltsam, denn hierbei handelt es sich nicht um Themen, die gesellschaftlich verboten sind und deren Behandlung unter Strafe gestellt werden sollte. 1965 schrieb der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Konrad Zweigert über die Erschrockenheit von deutschen Bundesbürgern angesichts der Sätze: „Juden haben gewissen typische negative Eigenschaften“ oder „Die Jahre 1933-45 haben erwiesen, dass das deutsche Volk als Ganzes nichts taugt.“ Zweigert kommt dabei zu dem Schluss, dass es sich hier zwar um diskutierbare Aussagen handelt, aber die Diskussion darüber in den meisten Fällen als unerhört empfunden werden würde. Diese Reaktion schreibt man in der Regel Tabus zu.
Ohne Angst verschieden sein
Sobald Vielfalt als Normalität anerkannt wird und jeder Mensch das prinzipiell gleiche Recht auf Freiheit zugestanden bekommt, wird es uns gelingen, in einer wirklich offenen Gesellschaft zu leben
[...]»
Selbstschutz der Verdienst des Tabus
Zweigert unterteilt weiterhin in drei verschiedene Arten des Tabus: negative Tabus, das heißt, der tabuisierte Gegenstand wird mit einer ablehnenden Tendenz behandelt, positive Tabus, bei denen man nur mit positiver, lobender Tendenz sprechen darf und verdrängende Tabus, die einen Gegenstand nicht behandelbar und verschweigbar machen. Für jede Kategorie lassen sich etliche Beispiele finden und wahrscheinlich ist allein die Einordnung von Dingen in eine von diesen heikel, weil allein das schon das Tabu zu Thema macht. Tabus werden von Menschen zum Selbstschutz befolgt und spiegeln
ungeschriebene Gesetze wider. Sie werden oft nicht hinterfragt und von den meisten Menschen geachtet. Häufig missachtet man sie noch nicht einmal gedanklich, da der Bereich des Tabus mit Unwissenheit und dadurch mit Angst verbunden ist. Auf diese Art und Weise können sich Tabus erhalten. Sie werden befolgt, es wird nicht über sie gesprochen und nicht aufgeklärt, es entsteht Angst und so befolgt man sie weiter unausgesprochen.
Tabus durch Gruppen vermittelt
Tabus ändern sich im Laufe der Zeit, denn sie unterliegen den herrschenden gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten. Zum Beispiel ist es in unserer Zeit weniger ein Tabu, neutral oder positiv über die DDR zu sprechen, als noch vor dem Fall der Mauer. Oder auch der Holocaust oder die Verbrechen des Nationalsozialismus sind bis zur Bewegung der 68er ein Tabuthema in Deutschland gewesen. Gerade die Bewegung der 68er zeigt aber auch, dass Tabubrüche Veränderungen bedeuten und Konfliktpotenzial haben. Tabus werden von Gruppen vermittelt und entsprechen deren ideologischen Einstellungen. Sobald diese verletzt werden, wird automatisch die entsprechende Gruppe in ihrer Ideologie und Macht in Frage gestellt. Ein konkretes Beispiel mag hierfür die Debatte um die Gleichstellung der Ehe für Homosexuelle in Deutschland sein. Deren Gegner entsprechen der Tabulogik, indem sie sich vor den unbekannten Auswirkungen auf die Nachkommen aus solchen Verbindungen fürchten, während die Befürworter die Deutungsmacht der Gegner an sich herausfordern. Hätte man die Regel „über Politik spricht man nicht“ beachtet, wäre die ganze Debatte nicht losgetreten worden und alles würde beim Alten bleiben, nichts würde sich ändern. Doch genau dafür brauchen wir Meinungsfreiheit; um Tabus zu brechen und Stillstand zu vermeiden.