VON NORA GRAF | 07.12.2015 16:14

EU-Parlament beschließt Regeln zur Netzneutralität – oder doch eher das Gegenteil?

Nach zwei Jahren Debatte hat das EU-Parlament Regeln für eine gemeinsame Netzneutralität verabschiedet, endlich verbindliche Verordnungen, an die sich alle Mitgliedsstaaten halten müssen. Doch weit gefehlt. Die Verordnung, für die Ende Oktober die große Mehrheit aller Abgeordneten aus allen Parteien gestimmt hatte, enthält große Schlupflöcher. Durch die sehr allgemein formulierten Passagen wird es den jeweiligen nationalen Regulierungsbehörden überlassen, die entsprechenden Abschnitte mit konkretem Inhalt zu füllen.


Grundsätzlich handelt es sich bei der Netzneutralität um ein Grundprinzip des Internets. Demnach sollen alle Daten – unabhängig von Sender, Empfänger oder Plattform – gleichberechtigt und ohne zusätzliche Kosten im Web übertragen werden. Nach dieser umstrittenen Entscheidung aber sehen viele ein freies und vielfältiges Internet in Gefahr.

Sozialdemokraten, Konservative und Liberale haben in zweiter Lesung dem sogenannten Trilog-Kompromiss zur Netzneutralität zugestimmt – ohne Berücksichtigung der eingebrachten Änderungsanträge. Die verabschiedeten Regelungen sind Teil einer Verordnung zur Harmonisierung des europäischen Binnenmarktes in der Telekommunikation, wodurch auch die Roaming-Gebühren geregelt werden. Während die Roaming-Regelungen noch relativ eindeutig definiert wurden (diese sollen bis 2017 stufenweise abgeschafft werden), so sieht das bei den Vorschriften bezüglich der Netzneutralität doch eher anders aus: Der Kompromiss in seiner jetzigen Form würde Rechtsunsicherheiten schaffen, da klare und unmissverständliche Regeln fehlen.

Denn das, was mit der Netzneutralität eigentlich verhindert werden soll, könnte über Umwege Realität werden: Ein Zwei-Klassen-Netz. Im Gesetzentwurf heißt es eigentlich, dass "Verkehrsmanagementmaßnahmen nicht diskriminierend sein dürfen", bestimmte 'Spezialdienste' dürften aber privilegiert behandelt werden. Welche Dienste genau in diese Kategorie fallen, geht aus dem EU-Text nicht eindeutig hervor. So könnten Telekommunikationsunternehmen bestimmte Angebote als Spezialdienste vermarkten und auf kostenpflichtige Überholspuren der Datenautobahn auslagern, während alle anderen sich mit der Schleichspur begnügen müssen.

Internet zum Selberbauen

Die neuen Regelungen erlauben außerdem die sogenannten Zero-Rating-Angebote, also solche Dienste, deren Nutzung vom sonst erlaubten Datenvolumen ausgenommen sind, wie etwa Spotify, das manche Provider über ihr Netz gratis anbieten, oder Facebook, das besonders in Schwellenländern einen kostenfreien Zugang zu bestimmten Web-Diensten ermöglicht. In Indonesien können Nutzer über eine App oder eine Webseite nicht nur kostenlos auf Facebook, sondern auch auf den Online-Marktplatz Tokopedia oder die eLearning-Plattform Kelase zugreifen. Zero-Rating-Angebote stehen aber gerade deswegen auch in der Kritik, da sie nicht den freien Zugang auf das komplette Internet gewährleisten, sondern eben nur auf ausgewählte Dienste.

Geschäftsmodelle wie die Drosselkom-Tarife werden durch die Verordnung legalisiert, die Deutsche Telekom, Vodafone oder etwa Telefonica konnten sich mit ihrer Lobbymacht durchsetzen. Netzbetreiber können nun entgegen dem Neutralitätsprinzip Datenpakete in unterschiedliche Kategorien einteilen und diese auch unterschiedlich behandeln. Es ist den Betreibern sogar erlaubt, die Übertragungsgeschwindigkeit zu drosseln, wenn sie auch nur die Befürchtung hegen, dass eine Netzüberlastung droht, also noch bevor diese tatsächlich eintritt.

Es stellt sich die Frage, warum die Mehrheit der EU-Abgeordneten einem so wässrigen Regelwerk zugestimmt hat, obwohl sie vor einem Jahr noch mit deutlicher Mehrheit für klare Regeln gestimmt hatte. „Viele Abgeordneten haben mir gestern bestätigt, inhaltlich für die Änderungsanträge zu sein.“ so Thomas Lohninger von der Initiative für Netzfreiheit. Er ist davon überzeugt, dass viele Abgeordnete den Kompromiss einfach abgenickt hätten, da sie glaubten, der Europa-Rat hätte sowieso keinen anderen Text zugelassen.

Daher sei es nun in der Konsultationsphase, in der die EU-Behörde für Regulierungsfragen im Telekommunikationssektor (BEREC) Anhörungen durchführt, wichtig, dass sich insbesondere die Zivilgesellschaft in den Prozess einbringt und für ihre Rechte einsteht. Nur so kann sicher gestellt werden, dass die Regulierungsbehörden sich nicht davor drücken, Verstößen gegen Nutzerrechte nachzugehen. Und nur so kann die notwendige Rechtssicherheit, die das Parlament in allen wichtigen Punkten vermieden habe, in den Text gebracht werden.

In Deutschland wird sich die Debatte somit von der EU-Ebene auf die Bundesnetzagentur verlagern, dorthin, wo die Arbeit intransparenter ist und Lobbyisten es einfacher haben, ihre Interessen durchzubringen. Vor allem Günther Oettinger, der EU-Digital-Kommissar, wird scharf kritisiert. Jan Philipp Albrecht, Mitglied des Europäischen Parlaments der Grünen, äußerte sich besonders vernichtend: „EU-Kommissar Günther Oettinger feiert das Ergebnis als Erfolg für die Netzneutralität, dabei wird die Wahrheit dieses dreckigen Deals immer deutlicher: Die heutige Entscheidung ist de facto eine massive Einschränkung des Neutralitätsgebotes. (…) Der gefundene Deal ist daher ein Geschenk für die großen Internet- und Telekommunikationsunternehmen auf Kosten kleinerer Wettbewerber sowie der Verbraucherinnen und Verbraucher.“

Das „Gute“ an der derzeitigen Rechtsunsicherheit ist, dass Gerichte die vagen Formulierungen präzisieren müssten – und das unabhängig von Lobbyeinflüssen.