VON CHARLOTTE MEYER | 15.05.2015 12:53

Memorial – durch die Erinnerung die Zukunft verbessern

Die Organisation Memorial erhielt 2004 den Right Livelihood Award für ihr Engagement um die Geschichte und Gegenwart von Menschenrechtsverletzungen in Russland. Seit ihrer Gründung kämpft Memorial für die historische Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit und verschließt nicht die Augen vor aktuellen Verstößen gegen das Menschenrecht. Mit ihrem Engagement stößt die Organisation in ihrem Heimatland zum Teil auf großen Wiederstand. Was die Konsequenzen dessen bisher waren und künftig sein könnten, schreibt UNI.DE.



Denkmalsetzung als Ursprung

Memorial wurde 1988 auf Initiative des russischen Physikers und Dissidenten Andrej Sacharow in Russland gegründet. Seitdem beschäftigt sich die Organisation mit der geschichtlichen Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft, der Achtung der Menschenrechte und der Fürsorge für die Überlebenden des sowjetischen Arbeitslagersystems (GULag). Die Organisation gründete sich 1988 zunächst als öffentliche Bewegung und registrierte sich 1990 als erste unpolitische, regierungsunabhängige Organisation im postsowjetischen Raum. Das ursprüngliche Ziel von Memorial war damals, den Opfern des Stalinismus ein Denkmal zu errichten. Dies gelang der Organisation als am 30. Oktober 1990 wurde das Ehrenmal vor der Lubjanka, der ehemaligen KGB-Zentrale in Moskau, eingeweiht wurde. Heute sind die Hauptmissionen der Organisation unter anderem die Förderung von Zivilgesellschaft und Demokratie, die Schaffung öffentlichen Bewusstseins und die Verbreitung der Erinnerungen von Opfern politischer Unterdrückung. Inzwischen besitzt Memorial in Russland und international mehrere Gruppen und Verbände.

Anna Politkowskaja

Hauptinteresse: Geschichte und Gegenwart von Menschenrechtsverletzungen

Die Jury des Right Livelihood Awards hat Memorial die Auszeichnung 2004 verliehen für das Engagement um die Aufarbeitung der Geschichte von Menschenrechtsverletzungen und weil die Organisation immer wieder für den Respekt der Menschenrechte eingetreten war. Memorial hat seit seinem Bestehen 1988 ein weitreichendes Netzwerk an Archiven aufgebaut, die auf geschichtliche Forschung über totalitäre Repressionen spezialisiert und öffentlich zugänglich sind. Zu betrachten sind dort Briefe von russischen Zwangsarbeitern, Zeichnungen und Gemälde von GULag-Inhaftierten und sämtliche Bücher und Dokumente zum Thema. Außerdem engagiert sich die Organisation für noch lebende Opfer des Sowjet Regimes und bietet ihnen Pflege und medizinische Hilfe an und unterstützt sie bei der Vertretung ihrer Rechte. Einen Großteil der Arbeit von Memorial richtet sich zudem auf aktuelle Menschenrechtskonflikte auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Auf diese Weise beobachtet die Organisation potenzielle Konflikte und Menschenrechtsverletzungen in Zentralasien, dem Kaukasus, Russland und der Ukraine und seit 1994 hauptsächlich die Lage in Tschetschenien. Außerdem überwacht Memorial Probleme akuter politischer Unterdrückung, sucht rechtliche Unterstützung für Flüchtlinge in Russland und kämpft für die Rechte nationaler Minderheiten im Land.

Großem Widerstand des Staates ausgesetzt

Doch das Engagement von Memorial ist problembehaftet im russischen Heimatland. Im Juli 2009 wurde die Menschenrechtsaktivistin und von Memorial in Tschetschenien beauftragte Natalja Estemirova entführt und getötet. Sie ist eine offene Kritikerin des Tschetschenenführers Ramzan Kadyrov gewesen. Der folgende Gerichtsprozess gegen den Vorsitzenden von Memorial, der Kadyrow als schuldig am Mord Estemirovas erklärte, endete mit Freispruch. Aktuell hat die Organisation mit dem Gesetz über „Ausländische Agenten“ zu kämpfen, das im November 2012 in Kraft getreten ist. Dieses Gesetz stellt Nicht-Regierungsorganisationen, die sich durch ausländische Spenden finanzieren, unter Generalverdacht, indem es sie als aus dem Ausland beeinflusste Marionetten darstellt. Memorial verurteilt dieses Gesetz als illegal und unmoralisch und kündigte an, ihm zu trotzen. Gemeinsam mit anderen Menschenrechtsgruppen nimmt die Organisation damit Bußgelder und Gefängnisstrafen in Kauf und läuft Gefahr, geschlossen zu werden. Auf die Frage, warum Memorial so vehement die Russische Regierung kritisiert und sich nicht auf historische Menschenrechtsverletzungen beschränkt, weist Elena Zhemkova von Memorial auf den Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft hin: „Unsere Geschichte ist nicht die Geschichte des Staates, sondern der Menschen. Oft ist dies eine Geschichte von Menschenrechtsverletzungen. Dementsprechend lernen wir in der Arbeit mit Geschichte über Menschenrechte. […] Wir müssen die Verantwortung für Geschichte und Gegenwart tragen.“ Die Arbeit von Memorial wird also weitergehen und bleibt nicht in der Vergangenheit stehen. Hoffentlich kann der starke Gegenwind in Russland als Motivation gelten, noch stärker zu widerstehen.