VON ANGELA SCHWEIZER | 14.09.2016 15:16

Frauen an der Macht? Die letzten Matriarchate der Welt

Viele Mythen ranken sich um das Matriarchat, dabei ist erstaunlich wenig bekannt über diese Gesellschaftsform. Entgegen weitläufiger Meinungen handelt es sich nicht um eine „Frauenherrschaft“, also um eine spiegelbildliche Umkehrung des Patriarchats, sondern um eine egalitäre Gesellschaft ohne institutionalisierte Hierarchien, mit je nach Region unterschiedlicher, geschlechtsspezifischer Aufgabenteilung. Wie leben die Menschen in einem Matriarchat und wo auf der Welt existiert diese Gesellschaftsform noch heute? Über die letzten matriarchalen Gesellschaften der Welt berichtet UNI.DE.


Das Matriarchat gilt als älteste Gesellschaftsform der Welt, so wurden Spuren mütterbezogener Gesellschaftsstrukturen bereits in der Altsteinzeit entdeckt. Während der Jungsteinzeit, als die Jäger- und Sammlerkulturen sesshaft wurden und sich die ersten Stadtkulturen auf verschiedenen Kontinenten bildeten, entwickelten Frauen die Ackerbautechniken. Diese „matriarchalen Ackerbauzentren“ verbreiteten sich schließlich weltweit und hielten sich viele Jahrtausende lang, bis zur frühpatriarchalen Entwicklung, ca. 2000 v. Chr., und der damit einhergehenden Ausbreitung des Patriarchats, was schließlich in Herrschaftsstrukturen, Eroberungskriegen und Kolonialismus seinen Höhepunkt fand.

Bedeutung des Matriarchats

Die Begründerin der Matriarchatsforschung, Dr. Heide Göttner-Abendroth, geht von höchstens 20 Gesellschaften in Asien, Amerika und Afrika aus, in denen das Matriarchat voll und ganz gelebt wird. Matriarchale Muster und Spuren gebe es jedoch sehr viel mehr, so die Forscherin. Die verbleibenden Matriarchate sind geprägt von einer jahrhundertelangen Geschichte des Widerstandes gegen die industrialisierte Welt und befinden sich meist in Gebirgen, Wüsten oder anderen schwer erreichbaren Gebieten. Obwohl viele in Kontakt mit anderen Gesellschaftsformen sind, halten sie am Matriarchat fest. „Besonders matriarchale Männer“, so Göttner-Abendroth, „verteidigen ihre Kultur intensiv gegenüber patriarchalen Übergriffen von außen. Sie leben gern in ihrer Gesellschaft.“ Dabei bedeute Matriarchat nicht, dass die Männer die Unterdrückten seien, sondern dass die Gesellschaften in Balance sind, da man von einer Egalität der Geschlechter ausgehe. Es ist also keine Umkehrung des Patriarchats, sondern es geht um Ausgewogenheit: Nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen Mensch und Natur. Beide Geschlechter gelten als gleichwertig, haben jedoch ihre jeweils eigenen Aktionssphären mit geschlechtsspezifischen sozialen, kulturellen und ökonomischen Aufgaben. Wobei diese, je nach Region, völlig unterschiedlich sein können. Bei den Mosou in Südwestchina sind beispielsweise Männer für Fischerei und Handel zuständig, Frauen für Ackerbau und Garten. In matriarchalen Gesellschaften Mexikos ist dies genau umgekehrt. Gesellschaftliche Egalität muss dabei immer wieder hergestellt werden. Die Konsensbildung erfolgt auf der Ebene der Familie, des Dorfes sowie der ethnischen Gruppe, je nachdem wer in den Konflikt involviert ist. Dieses basisdemokratische Prinzip funktioniert jedoch auch, da die Anzahl der Menschen, die in einer matriarchalen Gesellschaft zusammen leben, nicht sehr hoch ist.

Familienstruktur im Matriarchat

Verwandtschaft ist in matriarchalen Gesellschaften nach dem Prinzip der Matrilinearität aufgebaut, das bedeutet, dass die Linie der Mutter entscheidend ist. Familienname, soziale oder politische Titel werden in der mütterlichen Linie vererbt. Matriarchale Familien leben oft in einem großen Haus zusammen, das je nach Größe, von 50 bis zu 500 Personen, wie beispielsweise das Langhaus der Irokesen in Nordamerika, beherbergen kann. In der mehrere Generationen umfassenden Gemeinschaft leben die Mutter und ihre Schwestern, deren Töchter und Enkelinnen, sowie die Männer, die direkt mit den Frauen verwandt sind, wie Brüder und Söhne. Diese Wohnfolgeordnung, bei der Frauen niemals das mütterliche Haus verlassen, auch wenn sie Kinder haben oder einen Partner, wird Matrilokalität genannt. Meist verlassen auch die Männer das Mutterhaus nicht, da sie ihre Geliebten oder temporären Partnerinnen nur während der Nacht besuchen. Auch im Falle einer Heirat leben Frau und Mann weiterhin getrennt und sehen sich nur zeitweise, meist über Nacht, in einer sogenannten Besuchsehe.

Werte und Wertewandel – Gesellschaft und Mensch im Fluss

Die biologische Vaterschaft, wie wir sie kennen, existiert in matriarchalen Gesellschaften nicht, da es unwichtig und oftmals unbekannt ist, wer das Kind gezeugt hat. Entscheidend ist der Name des Kindes, der von mütterlicher Seite vererbt wird. Es bleibt im Hause der Mutter und wird von ihr und ihren Schwestern aufgezogen. Eine Art soziale Vaterschaft wird von den Brüdern der Mutter ausgeübt, der als Onkel eine wichtige soziale Rolle innerhalb der Familie ausübt, da die Schwesterkinder denselben Familiennamen tragen wie er.

Das westliche Konzept Ehe gibt es in matriarchalen Gesellschaften nicht. Der Journalist Ricardo Coler, der zwei Monate in einer matriarchalen Gesellschaft in China lebte, berichtete, dass Kindern sogar damit gedroht werde, verheiratet zu werden, wenn sie nicht brav seien. Sie kennen das Konzept der Ehe nur als „Horrorgeschichte“. Er selbst wurde von den südchinesischen Mosou gefragt, warum in seiner Kultur ständig etwas wiederholt werden würde, von dem die Menschen doch wissen müssten, dass es nicht funktioniere.

Bild: "Hopi Indian woman and her daughter in the village of Oraibi, ca.1901" von Pierce, C.C. (Charles C.), 1861-1946; James, George Wharton via Wikimedia Commons. Von UNI.DE zugeschnitten und mit ©-Hinweis versehen.
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