VON SUSANNE BREM | 09.09.2016 12:19

Female/Gender Shift: Die Frau und ihre Rolle(n) im Wandel

Seit 10 Jahren werden jährlich im Global Gender Gap Report Untersuchungsergebnisse zur Gleichstellung der Geschlechter veröffentlicht. Wie stehen die Geschlechter heute zueinander? In welcher Rolle sehen sich Frauen heute, welche Rolle(n) führen sie aus und welche der Mann? An welchen Stellen ist die Kluft in der Gleichbehandlung von Mann und Frau noch besonders groß? Und woran liegt das? Die Sicht auf die Frau und ihr Stand in der heutigen Zeit haben sich in den letzten 60 Jahren gravierend verändert: mehr Rechte, mehr Unterstützung. Über Entwicklung, Zukunft und Bedeutung für die Männer.


Die Frau im 20. Jahrhundert

Lange Zeit war die Frau dem Mann nachgeordnet: im Eheleben, sozial, gesellschaftlich, politisch; bis ihr nach dem Zweiten Weltkrieg die Aufgabe zufiel, die zerbombten Städte von Trümmern und Schutt zu befreien. Sie schleppten schwere Lasten, führten die Höfe ihrer gefallenen Männer – das Selbstbild der Frau veränderte sich, sie gewann an Selbstvertrauen, hatte Verantwortung, handelte eigenständig(er). Kurz darauf kamen erste konkrete frauenrechtliche Ansprüche: Der Frankfurter Frauenausschuss forderte 1946 nicht nur die Gleichberechtigung der Frau, sondern auch, dass ihnen erlaubt würde, in Verwaltungen zu arbeiten, das gleiche Recht auf Arbeit und den gleichen entsprechenden Lohn zu haben etc. Wunsch und Ziel waren generell ein Wertschätzen der von Frauen geleisteten Arbeit und einem entsprechenden Angleichen ihrer Rechte. Die Folge: Mit der BRD fand die Gleichberechtigung von Mann und Frau 1949 Einzug ins Grundgesetz.

Weitere Anpassungen folgten innerhalb der nächsten Jahrzehnte: Der Frau wurde ein Mitspracherecht im Eheleben eingeräumt (1957, siehe Gehorsamsparagraph), sie durfte erwerbstätig werden und dies auch ohne ihren Ehemann entscheiden (1958), ein eigenes Konto eröffnen und ihr Vermögen verwalten. Schwangere bekamen Kündigungsschutz, Mutterschaftsurlaub wurde eingeführt, Schwangerschaftsabbrüche wurden (1976, unter bestimmten Bedingungen) straffrei und, ein besonders wichtiger Schritt für die Selbstbestimmung der Frau, die Antibabypille kam 1961 auf den Markt. Dennoch blieb die Frau in der Realität zunächst lange in ihrer alleinigen Rolle als Frau und Mutter verhaftet – ohne Erwerbstätigkeit oder neue individuelle Entscheidungsmöglichkeiten. Vor allem gesellschaftlich änderte sich der Blick auf die Frau nur langsam.

90er bis heute: Auf die Familie fokussiert statt auf die Frau allein

Kurz nach dem Mauerfall in Berlin gab es weitere neue Gesetze und Programme, um der Frau als Mutter und Erwerbstätige zu helfen und um Familienalltag und Kindererziehung zu erleichtern. Der rechtliche Anspruch auf einen Kindergartenplatz, Elternzeit und Elterngeld, Neubau von Betreuungseinrichtungen für Kinder sollten dazu beitragen, dass sich die Frau aus ihrer alleinigen Aufgabe als Hausfrau und Mutter lösen und Familie und Arbeit gleichermaßen in ihr Leben integrieren kann.

Trotz dieser vielen Verbesserungen bestehen noch immer einige Ungerechtigkeiten im Geschlechterverhältnis: Frauen bekommen z. B. im Schnitt 22 Prozent weniger Lohn als Männer für dieselbe Arbeit, arbeiten den Kindern zuliebe häufiger in Teilzeitjobs als Männer, steigen so auch weniger in Chefetagen auf und leisten noch immer den Mammutanteil in der privaten Pflege von Familienangehörigen, im Haushalt und der Kinderbetreuung.

Female Shift, oder eher: Gender Shift

Laut dem Global Gender Gap Report ist die Kluft zwischen den Geschlechtern in zwei Punkten mittlerweile quasi geschlossen: in Gesundheitsfragen und medizinischer Versorgung einerseits und in Sachen Bildung andererseits. Hier ist der weibliche Teil der Bevölkerung sogar schon längst auf der Erfolgsspur. Fast 40 Prozent verlassen die Schule mit Abitur, immer mehr nehmen ein Studium auf. Die UNESCO sieht die Frauen heute als Bildungsgewinner: in Nordamerika, Westeuropa, aber auch bereits in Ostasien und Lateinamerika.

Werte und Wertewandel – Gesellschaft und Mensch im Fluss

Teilweise ist von einer Feminisierung der Gesellschaft die Rede. Neben einem allgemeinen Wandel von Wertvorstellungen über die letzten Jahrzehnte tragen vor allem veränderte ökonomische Aspekte dazu bei, dass sich das gesamte Gesellschaftsbild ändert. Mit der Rolle der Frau justieren sich also Männer gleichermaßen neu. Sie reagieren, hinterfragen die eigenen Aufgaben und Möglichkeiten und tarieren sie neu aus. Emanzipation bedeutet nicht (mehr) die Gleichheit der Geschlechter, sondern die Freiheit der Wahl – für beide. Das Selbstverständnis der Frau heute sieht Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit vor, sie entwickelt individuelle Ziele und erreicht sie auch; Männer reagieren auf diese Eigenschaften gleichermaßen. Verantwortung wird in Partnerschaften nach Wunsch beider Seiten geteilt. Frauen rücken beruflich in ehemalige Männerdomänen vor (Medizin, Jura, BWL), Männer nähern sich den alten Frauenbereichen, sie nehmen Vaterschaftsurlaube in Anspruch und definieren sich zusätzlich und zunehmend auch über fürsorgliche Tätigkeiten im Privatleben.

Neue Werte, neue Rollen: ein Bekenntnis zu Vielfalt und Möglichkeiten

Die traditionellen Werte-, Rollen- und Geschlechterbilder verschwimmen, der Mensch – allen voran die Frau – orientiert sich zunehmend individuell und bewegt sich innerhalb eines Spektrums an möglichen Bildern, Aufgaben und Identitäten, statt in festen Kategorien. Alternative Familien- und Lebensmodelle wie Polyamorie, Patchwork- und Regenbogenfamilien etablieren sich als gesellschaftlich zulässig. Sowohl Frau als auch Mann verlieren einerseits an einheitlicher Kontur und gewinnen andererseits an Wahlfreiheit. Insofern muss in die Bemühungen zur Gleichstellung der Frau nun auch stärker die Männerwelt mit einbezogen werden und an ihre veränderten Lebensrealitäten angepasst werden (Vaterschaft, Hausmann etc.). Demnach verändern sich die Stellung der Frau, ihre persönlichen und beruflichen Möglichkeiten, ihre Identität(en) immer schneller; im selben Zuge mittlerweile aber auch die des Mannes. Die Gleichstellung und Emanzipation der Frau durch den allgemeinen Wertewandel und das Auflösen traditioneller Rollenbilder (Female Shift) nährt und befördert den allgemeinen Gender Shift immer weiter – zugunsten von Diversität, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit. Und das kommt nicht nur der Frau zugute, sondern auch dem Mann und einer allgemeinen Geschlechtergleichstellung.